Zeiten(w)ende: Figurationen von Apokalypse und Revolution
In dem Poem "Dvenacat’" (1918, "Die Zwölf") des russischen Symbolisten Aleksandr Blok marschiert Christus an der Spitze eines Zuges revolutionärer Rotarmisten. Diese Konstellation ist exemplarisch für das zu untersuchende Phänomen: Blok hatte zu Beginn des Jahrhunderts apokalyptische Heilserwartungen mit der Evokation einer "Schönen Dame" in seinem gleichnamigen Gedichtzyklus Stichi o prekrasnoj dame (Verse von der schönen Dame, 1904) verbunden. Anstelle der dort artikulierten Vorstellung vom Ende der Zeiten und dem damit anbrechenden ewigen Heil steht nun eine entsprechende, auf die Revolution gerichtete Erwartung.
Es geht zunächst um die Reflexion dieses Kippmoments zwischen eschatologischer und revolutionärer Perspektive und dann um die Frage, welche Rolle dem Modus des Ästhetischen zugemessen wird, wenn in heilsgeschichtlicher und/oder (sozial)revolutionärer Erwartungshaltung eine Umkehr der Zeiten – in wörtlichem Sinne – ins Werk gesetzt wird. Sowohl der Apokalyptik wie der Revolution liegt die Denkfigur eines radikalen Umbruchs zugrunde, der zu einer (ge)heil(t)en Welt führen soll. Zu fragen ist, inwieweit gerade die Ästhetisierung es ermöglicht, die Denkfigur einer totalen Zeitenwende aus einem heilsgeschichtlichen, auf Transzendenz orientierten Weltmodell herauszulösen und in ein Modell zu integrieren, das die diesseitige Verwirklichung einer utopischen Idee erstrebt. Die Überlegungen schließen an jüngere Ansätze innerhalb der Kulturwissenschaften im Zuge des religious turn an, die auf die weitere Wirksamkeit religiös geprägter Denkfiguren über die Säkularisation hinweg aufmerksam gemacht haben.
Der von apokalyptischen Denkfiguren gesättigte russische Symbolismus soll dabei komparatistisch in Beziehung gesetzt werden zu anderen Denkbewegungen, die wie die frühe Kulturwissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts (Kracauer, Benjamin, Mannheim) mit der Figur der Zeitenwende arbeiteten. So band Siegfried Kracauer in seinen Denkbildern zur Großstadtwelt der Moderne die Hoffnung auf einen Moment des Umschlags, in dem es zu kollektiver politischer Bewusstwerdung kommt, an profane, im Kapitalismus aber in sakraler Manier gestaltete Orte wie das Kino. Das Verhältnis von apokalyptischem, messianischem und revolutionärem Denken ist insofern in einem größeren, für die Moderne prägenden und gesamteuropäischen Zusammenhang zu beleuchten.
Projektstatus: laufend
Mittelgeber: DFG (Heisenberg-Professur)
Kontakt: Prof. Dr. Irina Wutsdorff