Literarische Formen europäischer Rechtskultur in Polen, Russland und der Ukraine. Forschungen zu Recht und Literatur zentral- und osteuropäischer Gesellschaften in vergleichender Perspektive
Die Frage nach einem „Europa des Rechts“, ja einer „europäischen Rechtsidentität“, betrifft auch die Osthälfte des Kontinents. Vor diesem Hintergrund beabsichtigen die Teilprojektleitenden, Texte aus West- und Osteuropa, die für das Forschungsparadigma von Recht und Literatur relevant sind, in komparatistischer Sicht zu untersuchen. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchungen liegt im 19. und 20. Jahrhundert; einige der folgenden Fragestellungen sollen bis in die Gegenwart fortgeschrieben werden:
1) Recht als Literatur. Zur literarischen Formengeschichte von Rechtsquellen: (a) In welchem Sinne ist Recht „wie Literatur“? Gründungsnarrative europäischer Verfassungen; (b) Geschichtsschreibung als Rechtsquelle.
2) Literarische Kommunikation über Recht: (a) Literatur als Medium und Abwehr von Verrechtlichung (Polen, Russland, Ukraine); (b) Der frühe Kriminalroman in Westeuropa und im Russischen Reich.
Ronald Dworkins Studie How Law is Like Literature provoziert die Frage, wie die Parallelen zwischen literarischen und Rechtstexten außerhalb des Common Law-Rechtskreises produktiv werden können, und zwar juristisch wie literaturwissenschaftlich. Verfassungstexte enthalten oft implizite (1/a) Gründungserzäh-lungen, die zwischen der neuen und der alten Ära Grenzen ziehen. Neuland wird das Projekt insofern betreten, als die einschlägige Erforschung osteuropäischer Verfassungen noch in den Anfängen steht. Neben den „Geschichten ‚hinter‘ Verfassungstexten“ ist auch der umgekehrte Konnex von Interesse, den wir (1/b) in den Versuchen einer Durchsetzung von Anspruchsrechten über Texte mit vordergründig historiographischer Intention beobachten können. Die Behauptung „althergebrachter Rechte“ rückt hier ebenso in den Blick wie romantische Geschichtsmythen. Der Ansatz soll an Texten aus der Ukraine erprobt werden. Hier entsteht zwischen Frühneuzeit und ausgehendem 18. Jahrhundert eine Reihe von Geschichtsdarstellungen mit normenvermittelnden, ‚quasi-konstitutionellen‘ Subtexten.
Im Bereich der „literarischen Kommunikation über Recht“ behandelt das Projekt (2/a) das Problem der Rechts-Akkulturation. Dabei interessiert die Rolle, die hier – speziell in Ländern mit schwacher oder staatlich eingeschränkter Öffentlichkeit – der ‚schönen Literatur‘ zufällt. Gefragt wird, wie die Literaten Russlands, der Ukraine und Polens im 19. und 20. Jahrhundert Phänomene der Verrechtlichung narrativ inszenieren oder – etwa im Namen ethischer Maximalismen – abwehren. Während sich die russischen Literaten v.a. für spektakuläre Strafprozesse interessieren, nähern sich ukrainische Literaten dem Begriff des Rechts und den Fragen der Justiz vorzugsweise über die zivilgesellschaftliche Rechtspraxis und die Figur des Rechtsanwalts. Wie das ukrainische Rechtsbewusstsein sich im weiteren 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart literarisch manifestiert, wird anhand von Texten auch aus der sozialistischen Zeit und der Dissidenten-Kultur der 1960er Jahre sowie bis in die jüngste Zeit verfolgt. Eine Studie zu diesem breiten Zeitrahmen ist auch für Polen ein Desiderat. Während man in Russland seit der Gerichtsreform von 1864 intensiv, aber vielfach in krass rechtsnihilistischen Formen, über die Bewertung der Verrechtlichungsprozesse streitet, betrachten die polni-schen Autoren der Zeit das Recht als Hebel der gesellschaftlichen Modernisierung und als Instrument für die Wiederherstellung einer unabhängigen Nation. Gegenstand der letzten Unterabteilung (2/b) des Projekts sind – erneut im ost- und westeuropäischen Vergleich (wie in Sektion 1/a) – Parallelen zwischen Formen der Verrechtlichung im 19. Jahrhundert und der Genese des Kriminalromans. Die Gattung kann in vielen frühen Manifestationen als Element der Rechtskommunikation betrachtet werden. Dies gilt, wie im Falle der „romans judiciaires“ von Émile Gaboriau, vor allem dann, wenn die Aufklärung des Verbrechens unter explizitem Be-zug auf juristische Begriffe ‚ausbuchstabiert‘ wird. Der Vergleich west- und osteuropäischer Romane wird auch weniger bekannte (darunter z.B. polnische) Texte einbeziehen, in denen komplexe Rechtsbegriffe wie „vorgetäuschte Straftaten“, „Strafvereitelung“ etc. illustriert werden. Der Kriminalroman, so die Arbeitshypothese, avanciert hier zum populären Medium von Rechtsbewusstsein.