Teilprojekt B03

Kanonisierung und Diversifizierung im islamischen Recht und in der arabischen Rhetorik im Vergleich

Ziel des Teilprojekts ist ein Vergleich von Diversifizierungsprozessen in der Wissensproduktion, die im islamischen Recht (fiqh) und der arabischen Rhetorik (balāġa, im Sinne einer Literaturwissenschaft) in der sog. „nachklassischen“ Zeit (ab ca. dem 14. Jahrhundert) stattfanden. Im 13.Jahrhundert vollendeten sich Kanonisierungsprozesse auf verschiedenen Gebieten der arabischsprachigen Wissensproduktion, wodurch bestimmte Personen und ihre Texte eine überragende Autorität gewannen und viele Wissenschaften fortan ganz maßgeblich durch eine Bezugnahme auf diese Texte bestimmt waren. Im islamischen Recht vollzieht sich diese Kanonisierung durch die Herausbildung von „Schulen“ (maḏāhib). Bei der arabischen Rhetorik fließen verschiedene Ansätze im 13. Jahrhundert in einer „Standardtheorie“ zusammen, deren kanonischer Text, der Talḫīṣ al-miftāḥ, zum meistkommentieren Text (nach dem Koran) in der arabisch-islamischen Welt wird. Aufgrund dieser Kanonisierungsprozesse hat die westliche Islamforschung seit dem 19. Jahrhundert gefolgert, dass spätere Entwicklungen in der islamischen Geistesgeschichte – die sogenannt „nachklassische“ Phase – im Wesentlichen durch Stagnation und Erstarrung gekennzeichnet seien. Unverkennbar ist diese Beurteilung eng mit dem Modernisierungsnarrativ verknüpft: Dem dynamischen, rationalen und säkularen Westen wird der stagnierende, irrationale und religiöse Orient als „Anderes“ gegenübergestellt. Diese Beurteilung der „nachklassischen“ Zeit als Dekadenz (inḥiṭāṭ) wurde dann auch von arabischen Intellektuellen mit unterschiedlichen Interessen und unter Modifikationen aufgegriffen. Die Folgen sind bis heute spürbar: Die Literaturen des 14.–19. Jahrhunderts sind nach wie vor ein „blinder Fleck“ in der islamwissenschaftlichen Forschung.
Hier setzt unser Teilprojekt an. Am Beispiel zweier konkreter Wissenschaftstraditionen – Recht und Rhetorik im Sinne einer Literaturwissenschaft – wollen wir die Folgen der angesprochenen Kanonisierungsprozesse erstmalig empirisch untersuchen und miteinander in Bezug setzen. Dabei gehen wir von folgenden Beobachtungen und hypothetischen Annahmen aus: Gerade in nachklassischer Zeit kommt es zu einer Auffächerung des rechtlichen und rhetorischen Diskurses in verschiedene Gattungen. Die bisherige Forschung hat diesen Diversifizierungsprozess weitgehend ignoriert. Nachklassische Quellen wurden – wenn überhaupt – ohne Ansehen ihrer Gattungszugehörigkeit ausgewertet. Diese „Gattungsblindheit“ ist aber eine wesentliche Voraussetzung für die Stagnationsthese. Denn wir gehen davon aus, dass mit der Auffächerung in verschiedene Genres auch eine inhaltliche Diversifizierung einherging: Die Textgattungen stellen verschiedene Diskursebenen mit unterschiedlichen Funktionen dar. Während bestimmte Textformen den Diskurs stabilisierten, schufen andere Raum für Wandel und differenzierte Positionierungen. Ziel des Projektes ist es, eine gattungssensible und dadurch mehrdimensionale Perspektive auf Recht und Rhetorik im Vergleich zu etablieren und so die These von der Stagnation dieser Diskurse kritisch zu überprüfen. Zu diesem Zweck werden in fünf eng verzahnten Teilstudien spezifische Genres exemplarisch untersucht: (1) Maximen-, Distinktions- und Rätselliteratur; (2) Responsen- und Traktat-Literatur; (3) Koranexegese; (4) rechtshermeneutische Schriften; (5) kommentierte Stilmittelgedichte. Auf diese Weise sollen die Dynamiken von Kanonisierung und Diversifi-zierung in den Bereichen Recht und Rhetorik herausgearbeitet und miteinander verglichen werden.
Sollte sich unsere Hypothese empirisch erhärten, so hieße das, dass die Kanonisierungsprozesse in Recht und Rhetorik zwar stabilisierend wirkten, dabei aber nicht in eine Erstarrung oder Stereotypisierung mündeten. Vielmehr könnte sich das Zusammenspiel von Kanonisierung und Diversifizierung gerade als eine Strategie erweisen, einem Diskurs zugleich Stabilität und Flexibilität zu verleihen. Ein solcher Befund wäre von einer Tragweite, die über die Bereiche islamisches Recht und arabische Rhetorik weit hinausreicht. Denn ein ähnliches Entwicklungsmuster ließe sich noch für andere arabischsprachige Wissenschaftsdisziplinen nachweisen, so dass man es mit einem fachübergreifenden Phänomen zu tun hätte. Unter dem Gesichtspunkt der Komparativität birgt das Verhältnis von Recht und Rhetorik also das Potenzial für grundlegende Erkenntnisse zur islamischen Geistesgeschichte.

Teilprojektleitung

Prof. Dr. Norbert Oberauer
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Arabistik und Islamwissenschaft
Schlaunstr. 2, Raum 228
48143 Münster
Tel.: +49 251/83-24571
Email: norbert.oberauer@uni-muenster.de

Prof. Dr. Syrinx von Hees
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Arabistik und Islamwissenschaft
Schlaunstr. 2, Raum RS 363
48143 Münster
Tel.: +49 251/83-24571
Email: syrinx.hees@uni-muenster.de

Wissenschaftliche Mitarbeit

Dr. Hakki Arslan
Dr. Luca Rizzo
Dr. Tarek Sabraa