Prager Moderne(n)
Die Untersuchungen des Forschungsschwerpunkts "Prager Moderne(n)" gelten der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur und Kultur Prags um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und betrachten sie vergleichend im Hinblick auf Austausch- und Abgrenzungsprozesse. Den Bezugsrahmen bildet dabei materialiter die Stadt Prag, die aber in den verschiedenen kollektiven Identitätsdiskursen unterschiedliche symbolische Zuschreibungen erhält. Hinzu kommt die jeweilige Situierung mit Blick auf die die Zeit prägenden zivilisatorischen Modernisierungsprozesse, wobei die Reaktionen der Zeitgenossen sich in einem breiten Spektrum bewegen: von Affirmation über kritische Reflexion, die häufig in eine krisenhafte Zeitdiagnose mündet, bis hin zu Ablehnung. Äußerungen des literarischen Diskurses im weitesten Sinne, also literarische, literatur- und kulturkritische Texte der Zeit, setzen – so die Grundannahme – auf explizite oder implizite Weise die eigene (Prager, deutsch-Prager, tschechisch-Prager oder in einem weiteren Sinne auch böhmische) Position zum Phänomen der Moderne in Beziehung. Der im Projekttitel in Klammern gesetzte Plural der Prager Modernen markiert insofern die Frage, ob sich von einer spezifisch Pragerischen Ausprägung der Moderne sprechen lässt oder ob dort heterogene, nicht unbedingt jedoch entlang der nationalen Zugehörigkeit zu differenzierende Moderne-Auffassungen nebeneinander existierten. Ein Schwerpunkt soll in den kommenden Jahren auf dem Themengebiet Prag im | Feuilleton | in Prag liegen, dem 2018 bereits eine Konferenz im Rahmen des Forschungsverbundes "Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n)" gewidmet war.
Das Feuilleton der Prager Zeitungen beider Sprachen ist sowohl Reflexionsort wie auch ‑medium von Austausch und Abgrenzung zwischen beiden kulturellen Sphären. Nimmt man die Feuilleton-Beiträge in den deutsch- und tschechischsprachigen Periodika als kulturhistorische Quelle, so lässt sich hieran die wechselseitige Wahrnehmung und Resonanz auf kulturelle Ereignisse eruieren, etwa in Theater- und Literaturkritiken, aber auch in der Präsentation von Übersetzungen aus der neueren oder älteren Literatur der jeweils anderen Sprache. Hinzu kommen essayistische Texte, denen die jeweilige Einschätzung zeitbedingter Phänomene entnommen werden kann. Gerade an den kleinen, oft markanten Texten aus der Feuilleton-Rubrik lässt sich die Grundfrage des Forschungsschwerpunkts Prager Moderne(n) behandeln: Wie positionieren sich verschiedene Akteure der Prager Kulturszene zu den zivilisatorischen Erscheinungen der Moderne? Wie wird Moderne in den Beiträgen diskursiviert? Insofern ist den Feuilleton-Beiträgen in beiden Sprachen nicht nur die wechselseitige Wahrnehmung und Beurteilung kultureller Erscheinungen zu entnehmen, sondern auch die jeweilige Positionierung innerhalb der Moderne.
Das Feuilleton kann dabei als genuin moderne Gattung gelten, nicht nur weil es im Zusammenhang mit dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich rasant entwickelnden Zeitungswesen entsteht, sondern auch, weil ihm der Modus der Selbstreflexivität immer schon eingeschrieben ist: Diese Reflexion richtet sich sowohl auf die spezifische Produktionsweise und das spezifische Medium der Zeitung, als auch auf das Schreiben im Angesicht der sich verändernden Wahrnehmungsbedingungen in der Moderne. Feuilletonistisches Schreiben sucht, oft mit phantasievollen und spielerischen Formen des Arabesken und Ornamentalen, insbesondere Detailbeobachtungen ein Signum der Zeit abzugewinnen. Wenn also Feuilletons die Erfahrungen der Moderne auf ihre spezifische Weise verdichteten und sich diesen kleinen Texten insofern eine Kulturpoetik der Moderne ablesen lässt, gilt dies für die spezifische Situation in Prag und die unterschiedlichen Positionierungen zur Moderne umso mehr. Dabei kann es im Prager bzw. böhmischen und mährischen Feuilleton sowohl um die Reflexion kultureller Entwicklungen oder Ereignisse direkt vor Ort gehen, als auch um Betrachtungen, die einen größeren Horizont entfalten. Auch das Spannungsverhältnis von Austausch und Abgrenzung zwischen der deutsch- und tschechischsprachigen Kultur spiegelt sich im Feuilleton bzw. in der Art und Weise, wie bzw. ob über die jeweils anderssprachige Kultur geschrieben wird und wie zeitgeschichtliche Ereignisse eingeordnet werden, die im Zusammenhang mit der mehrsprachigen und mehrkulturellen Situation stehen. An Feuilleton-Texten beider Sprachen können insofern sowohl wechselseitige Wahrnehmungen und Einschätzungen verdeutlicht werden, als auch Parallelen oder Unterschiede in der Beurteilung exemplarischer Phänomene der Moderne. Das Mit-, In- und auch Gegeneinander von Deutschen und Tschechen in der Stadt Prag der Zeit tritt im Feuilleton besonders deutlich zutage.
Projektstatus: laufend
Mittelgeber: DFG (Heisenberg-Professur)
Kontakt: Prof. Dr. Irina Wutsdorff