Ikonen sind in der russischen Kultur nicht nur Kultbild innerhalb des orthodoxen Ritus, sondern wurden in den kultur- und gesellschaftspolitischen Debatten seit dem 19. Jahrhundert bei den Slavophilen zum Sinnbild einer eigenständigen russischen Tradition, da sie eine zur westeuropäischen und westkirchlichen Entwicklung differente Bildtradition begründen. Dies betrifft auf der Verfahrensebene die umgekehrte Perspektive und das Eigenlicht der Ikone, ferner die Vorstellung kollektiver, in einer Traditionsreihe verbürgter Urheberschaft. Aufgrund der Stellung im orthodoxen Kultraum bildet die Ikone im traditionellen Verständnis einen Umschlagspunkt zwischen irdischer und transzendenter Welt.
Anschlussfähig für moderne Auffassungen von (Bild- und Wort-)Kunst ist die Ikone – so die These des Projekts – einerseits wegen des ihr inhärenten überbietungsgestus und andererseits, weil sie sich in ihren bildgebenden Verfahren, wie auch in dem sie fundierenden theologischen Bildkonzept, gegen Mimesis als Abbildung diesseitiger Wirklichkeit stellt. Auseinandersetzungen mit der Ikone betreffen insofern immer auch den Status der Kunst, ihren Stellenwert im Verhältnis zur existierenden Wirklichkeit und zu einer höheren oder anderen, erstrebten Wirklichkeit. Anhand der Ikone artikuliert sich damit eine – durchaus auch politische – Weltanschauungsweise.
Eine Bezugnahme auf den überbietungsgestus der Ikone verfolgt das Projekt von der Romantik (Puškin) bis in die Kunst der Avantgarde (Malevič). Ein weiterer Fokus liegt auf dem Realismus. Hier war die Beschreibung von Ikonen(-Herstellung) im Zusammenhang mit Konzepten der Mimesis und mit ethischen Implikationen des Künstlertums von Interesse: So stellt Gogol’ in Portret (Das Porträt) weltliche und geistliche Kunst einander gegenüber, Dostoevskij zeigt in Idiot (Der Idiot) Holbeins Darstellung von Christus im Grabe als Anti-Ikone und Leskov schildert in Zapečatlennyj angel (Der versiegelte Engel) die Ikonen-Tradition Altgläubiger.