Das Teilprojekt A02 untersuchte die Genese, Ausformung und Wirkung eines gelehrten Diskurses über Entscheiden als zugleich theoretischen wie praxisrelevanten Gegenstand in Westeuropa zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert. Im scholastischen Diskurs entwickelten sich seit dem 13. Jahrhundert Konzepte von Kontingenz und Willensfreiheit, die in engem Zusammenhang zu der Frage standen, unter welchen Bedingungen begründetes, legitimes und konsensfähiges Entscheiden möglich war.
Die einschlägigen Überlieferungen zeigen, dass die akademischen Schriften einen lebendigen Diskurs zwischen Protagonisten wiedergeben, die sich zunehmend in gelehrten Streitparteien organisierten. Ihnen ging es nicht in erster Linie darum, Lösungsansätze für praktische Entscheidungssituationen anzubieten, sondern die Möglichkeit voraussetzungslosen Entscheidens zu erwägen und zu definieren. Dennoch wurden in den gelehrten Diskursen immer auch Probleme und Herausforderungen der gesellschaftlichen Umwelt mitreflektiert, die sich aus konflikthaften Herrschaftsverhältnissen und den daraus resultierenden Entscheidungssituationen ergaben. Für das formale Procedere des Diskurses nutzten die Parteien das Instrumentarium der universitären Disputation. Der Diskurs über das Entscheiden ist insofern ohne die Entwicklung der Universität, ihrer formalisierten, gelehrten Streitkultur und der virulenten Auseinandersetzungen über die ‚richtigen‘, logisch schlüssigen Wege der Argumentation nicht denkbar. Für den Prozess des Entscheidens selbst war allerdings zunächst noch kein eigenes Beschreibungsmodell definiert worden; ob und in welcher Form sich ein solches im Verlauf des Spätmittelalters herausbildete, hat das Projekt untersucht.
Ein zentrales Ziel des Teilprojekts A02 war es daher, die Genese und Entwicklung eines gelehrten Diskurses über Entscheiden in den sozialen und kulturellen Bedingungsgefügen, innerhalb derer er sich herausbildete, zu verorten. Daher wird diese Entwicklung nicht als ein rein ideengeschichtlicher Vorgang verstanden, sondern auch als Produkt gelehrter Praktiken. Indem diesen – und insbesondere der Disputatio als zentralem Element der universitären Diskurspraxis – selbst eine dezisionistische Dimension eigen war, wurden in den gelehrten Diskursen über Entscheiden die eigene gelehrte Praxis und die damit verbundenen Probleme mitreflektiert.