Teilprojekt A01

Poetiken des Entscheidens in der Erzählliteratur des deutschen Mittelalters

Das Teilprojekt A01 hat sich zum Ziel gesetzt, Werke der höfischen Klassik um 1200 systematisch hinsichtlich der Formen und Funktionen komplexer Entscheidensprozesse zu erschließen. Ausgangshypothese des Teilprojekts war, dass sich mittels einer rhetorisch-erzähltheoretisch perspektivierten Analyse von Entscheidenshandlungen gattungsspezifische wie gattungsübergreifende Regularien, die als Poetiken des Entscheidens gefasst werden, rekonstruieren lassen. Zum Korpus der zu untersuchenden Texte zählten unter anderem die epischen Werke Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg. Im Zentrum der Analyse standen dabei narrative Darstellungskonventionen und reflexive Beobachtungen von Entscheiden. Die Vielfalt der in den Untersuchungstexten dargestellten Sequenzen des Entscheidens korrespondiert mit unterschiedlichen Modi des Entscheidens, die von ritualisierten Beratungsszenen zwischen Herrscher und Hof bis hin zu verschiedenen Formen des Gottesurteils reichen.

In heuristischer Hinsicht lässt sich das zu untersuchende Korpus durch die Unterscheidung von drei Gegenstandsfeldern systematisieren: Entscheiden im Kontext personaler Beziehungsdynamiken, Entscheiden im Kontext von Herrschaftshandeln sowie Entscheiden im Kontext verdichteter Konfliktkonstellationen. Diese Bereiche wurden u.a. nach der Generierung von Entscheidungsbedarf und der narrativen Inszenierung von Entscheidungspraxis befragt. Es steht zu vermuten, dass in den zu untersuchenden Texten das Entscheiden als komplexe Legitimationsstrategie für die literarischen Entwürfe von ‚Gesellschaft‘, ‚Herrschaft‘, aber auch ‚Individuum‘ von zentraler Bedeutung ist. Indem die literarische Darstellung von Entscheiden realhistorische Problemhorizonte des Entscheidens aufgreift, konnte das Projekt die in jüngerer Zeit wieder aufgeworfene Frage nach dem gesellschaftlichen Charakter der höfischen Literatur aus einer neuen Perspektive diskutieren und auf diese Weise höfische Dichtung als kulturelle Praxis profilieren.

Publikationen

Bruno Quast

  • Mythen und Narrative des Entscheidens, hrsg. von Helene Basu, Bruno Quast und Martina Wagner-Egelhaaf, Göttingen 2019.
  • Entscheiden im Spannungsfeld von Routine und Unberechenbarkeit. Praxeologische Überlegungen zur Ginover-Entführung in Hartmanns von Aue „Iwein“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 138 (2019), S. 33-44.
  • Die Erfindung der Erlösung. Die theologische Mythe vom Streit der Töchter Gottes in der „Erlösung“ aus entscheidungstheoretischer Sicht, in: Mythen und Narrative des Entscheidens, hrsg. von Helene Basu, Bruno Quast und Martina Wagner-Egelhaaf, Göttingen 2019, S. 46-59.
  • Kairos. Verkündigung an Maria als Entscheidenskonflikt, in: Zukunft entscheiden. Optionalität in vormodernem Erzählen, hrsg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier, Göttingen 2020 (zum Druck angenommen).

Susanne Spreckelmeier

  • Vom erzählten Brauch zum verschriftlichten Recht. Die Bahrprobe als Entscheidensprozess in literarischen und rechtlichen Quellen, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 189-215.
  • Geronnenes Erzählen. Autotelische Gewalt und Entscheiden im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 138 (2019), S. 45-65.
  • geteiltez spil. Zur Verhandlung dilemmatischer Entscheidensprobleme im Werk Hartmanns von Aue, in: Narrative und Semantiken des Entscheidens, hrsg. von Philip Hoffmann-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek und Susanne Spreckelmeier, Göttingen 2020 (zum Druck angenommen).