Das Teilprojekt A04 untersuchte die Darstellung und Reflexion von lebenslaufkonstitutiven Entscheidungssituationen sowie die Formen und Verfahrensweisen des Entscheidens in Autobiographien vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Autobiographien werden nicht als Medium individualgeschichtlichen Ausdrucks betrachtet, sondern als eine kommunikative Gattungsform, die autobiographische Selbstentwürfe ebenso ermöglicht wie sie Modelle kulturellen und sozialen Handelns bereitstellt. In einer sozialkonstruktivistischen Perspektive wurde untersucht, mittels welcher textueller und rhetorischer Verfahren Autobiographien Integrationsleistungen zwischen Individuum und Gesellschaft zu bewerkstelligen suchen. Sieht das überlieferte hermeneutische Autobiographiekonzept Goethe’scher Provenienz die Integration des Individuums in die Gesellschaft vor und lässt daher die autobiographische Narration in der Regel mit der Übernahme einer sozialen Rolle durch das autobiographische Ich enden, ermöglichen neuere text- und zeichenkritische Ansätze der Autobiographieforschung die Inblicknahme von Reibungsflächen, Brüchen und Differenzen der Ich-Konstruktion. Das Teilprojekt adressierte erstmals die Frage des Entscheidens in der Autobiographie, ausgehend von einer Analyse von Goethes autobiographischem Werkkomplex (Unterprojekt A; Bearbeiterin: Martina Wagner-Egelhaaf) Es untersuchte, welche Art von Entscheidungen überhaupt die Selbstkonstruktion des modernen Ichs prägt und welche Wechselwirkung zwischen Entscheiden und autobiographischer Form besteht.
In den Blick kamen sowohl literarische Autobiographien, die mit den Genreformen explorativ umgehen, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit um 1900 (Unterprojekt B; Bearbeiterin Sarah Nienhaus) als auch Autobiographien von Politikerinnen und Politikern, die eher Gattungskonventionen bedienen (Unterprojekt C; Bearbeiter David Ginnuttis). Autobiographien erlauben eine Doppelperspektive, insofern als der Autobiograph/die Autobiographin die eigenen Lebensentscheidungen rekapituliert als auch Entscheidungen anderer beobachtet und kommentiert sowie ins Verhältnis zur eigenen Lebenslaufkonstruktion setzt. Im Zentrum steht die symbolisch-performative Darstellung des Entscheidens im autobiographischen Text selbst. Ein kulturell wirksames Narrativ des sich selbst setzenden autobiographischen Ichs stellt die mythologische Figur des Herkules mit den ihm auferlegten Aufgaben dar. Das Teilprojekt verwendete den Topos von Herkules am Scheideweg als Reflexionsmodell für eine kritische Infragestellung des Verhältnisses von individualistischen und sozialkonstruktivistischen Konzepten des Entscheidens.