(B9) Autor-Instanz und Inszenierung von Autorschaft in Hochmittelalter und Renaissance
Forschungen zum Autor als öffentlicher Instanz bei der Aufrechterhaltung, Stabilisierung und Ausformulierung oder bei der Anfechtung und Veränderung politischer und religiöser Ordnungen stehen für die Vormoderne nur punktuell bereit. Komparative Studien über Formen, Bedingungen und Wirkungen solcher Autorschaft sind ein Desiderat, dessen Erfüllung zu grundsätzlichen Einsichten in die Funktionen von Literaturproduktion in vormodernen Gesellschaften führen kann und damit zu Vergleichen auch mit antiken, modernen und außereuropäischen Kulturen geeignet ist (vgl. Projektskizzen B 9 Wagner-Egelhaaf; A 2 Bauer).
Schon in der Karolingerzeit tritt der Dichter mit literarischen Produkten von politischer und religiöser Programmatik öffentlich hervor. Differenzierter werden seine Funktionen im kontroversen öffentlichen Politik- und Religionsdiskurs des 12. Jahrhunderts, wenn er in Panegyrik, Satire und visionären literarischen Entwürfen Position bezieht und sich einmischt in aktuelle Fragen von imperium und ecclesia. Solche Autoren wählen jeweils ihre Gattungen mit deren in der Tradition bereitgestelltem spezifischen Redemodus (Epos, Lyrik, Vision in Vers und Prosa, Lehrgedicht, Brief, Dialog, Drama), um sie ihren Intentionen zu adaptieren und ihr Votum in reflektierter und je eigens profilierter Autorschaft wirksam zu inszenieren. Ein interessantes Corpus dieser Art ist z. B. Hildegards von Bingen visionärer Briefwechsel (ca. 300 Briefe) mit zahlreichen hochstehenden geistlichen und weltlichen Personen ihrer Zeit, dessen kritische Edition (gestrichen) abgeschlossen ist, dessen Auswertung jedoch noch aussteht. Sie erteilt Päpsten, dem Kaiser, Königen und Königinnen, Prälaten und Magistern, Priestern, Mönchen und Nonnen sowie Laien verschiedener Stände vom nördlichen Dänemark bis Italien, von Westfrankreich bis Prag auf Anfrage ihren visionären Rat und ist damit in wenigen Jahren als Frau (!) zu einer respektierten öffentlichen Instanz geworden, nachdem sie auf der Synode von Trier 1147/48 als Autorin approbiert war. In vergleichenden Studien mit diversen anderen literarischen Formen und Autorschaftsmodellen der Epoche sollen die spezifischen Leistungen der öffentlichen Autorinstanz erstmals im Zusammenhang beschrieben werden.
In einem zweiten Schritt sind vergleichend die entsprechenden Formen humanistischer Autorschaft des 15./16. Jahrhunderts für den Herrscher zu analysieren (Lyrik, Epos, Roman, intermediale Formen wie Huldigungsspiele u. a. m.). Das aufblühende Theater im konfessionellen Zeitalter erweist sich als wichtigste literarische und zugleich multimediale Institution der Meinungsbildung: ein frühes ‚Massenmedium’ der jeweils vom Autor – im Wortsinn – inszenierten gesellschaftlichen Wertediskussion über Religion und Politik, über deren Intentionen viele Prologe auch dezidiert Auskunft geben.