(A2-16) Religiöse Traditionen der Kapitalismuskritik in Deutschland im 20. Jahrhundert
In den Umbruchsituationen nach 1918 und 1945 war in Deutschland die Frage nach einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung virulent. Bereits in den 1920er Jahren entstanden religiös geprägte wissenschaftliche Schulen, die sich auch nach 1945 in die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Debatten einbrachten.
Während seitens des Protestantismus die konfessionellen Wurzeln des Ordoliberalismus und der „Sozialen Marktwirtschaft“ bereits intensiver erforscht wurden, steht eine gründlichere Aufarbeitung der Traditionen des Religiösen Sozialismus noch aus. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen aus dem von Paul Tillich inspirierten Kairos-Kreis der Gemeinwirtschaftstheorie verpflichtete Konzeptionen hervor, die nach 1945 durch Gerhard Weisser in das Godesberger Programm der SPD und in sozialpolitische Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland eingeflossen sind. Von besonderer Bedeutung ist Eduard Heimann, der nach 1933 in den USA Wirtschaftswissenschaften sowie Christliche Soziallehre lehrte, in den 1960er Jahren wieder in Deutschland wirkte und eine nicht von kapitalistischer Macht beherrschte, durch die christliche Religion integrierte Gesellschaft anstrebte. Welcher Zusammenhang besteht in Heimanns Werk zwischen religiöser Orientierung und wirtschafts- beziehungsweise sozialpolitischer Theoriebildung, und wie wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg rezipiert?
Das katholische Spektrum reichte in Weimar von radikaler Kapitalismuskritik bis zur Suche nach einem dritten Weg zwischen ‚individualistischem Liberalismus‘ und ‚kollektivistischem Sozialismus‘. Der Aufarbeitung bedürfen die heute meist vergessenen Autoren eines katholischen Sozialismus (Steinbüchel, Michel u.a.). Was die zweite Richtung angeht, so sind die Theoretiker des Solidarismus (Nell-Breuning u.a.) oft behandelt worden. Neue Erkenntnisse verspricht jedoch die Untersuchung des pragmatisch orientierten Sozialkatholizismus repräsentiert durch den Mönchengladbacher Zentralverein für das katholische Deutschland. In der Weimarer wie in der Bonner Republik spielten katholische Sozialpolitiker eine wichtige Rolle in der Leitung des Arbeits- beziehungsweise Sozialministeriums. Welcher Zusammenhang besteht hier zwischen katholischer Soziallehre und wirtschafts- sowie sozialpolitischer Praxis?
Vergleichend ist zu fragen: Inwieweit sind konzeptionelle Differenzen durch die konfessionelle Prägung bedingt? Wie sind theologische Begründungen mit natur- beziehungsweise vernunftrechtlichen Argumentationen und empirischen Analysen verbunden? Wie wird der modernen Ausdifferenzierung von Religions- und Wirtschaftssystem Rechnung getragen? Ferner interessiert das jeweilige Verständnis der Staatsaufgaben, das Verhältnis zum Marxismus, zu den politischen Parteien und zur Arbeiterbewegung.
Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform E Differenzierung und Entdifferenzierung und der Koordinierten Projektgruppe Religiöse Einflüsse auf wirtschaftliche Ordnungen und Handlungen.