(A2-14) Die Fleißrevolution und die Ausdifferenzierung der Kirchenpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Das Projekt steht im Kontext eines mittelfristigen Vorhabens zur aggregierten Beschreibung der deutschen Wirtschaft für den Zeitraum 1500–1850 (vgl. einstweilen Pfister 2009). Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes stellt dabei eine wichtige zu untersuchende Größe dar. Die These der Fleißrevolution behauptet, dass in der Frühen Neuzeit der jährliche Arbeitseinsatz pro Kopf zunahm, weil Menschen bereit waren, für denselben Lohn mehr zu arbeiten. Diese Verhaltensänderung hatte gewichtige positive externe Effekte, indem sie zur Marktbildung und damit zur Vertiefung der interregionalen Arbeitsteilung sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung beitrug (de Vries 2008). Der Nachweis, dass über die Kompensation eines fallenden Reallohns hinaus eine Zunahme des individuellen Arbeitsangebots stattgefunden hat, ist allerdings bislang nur für England in der zweiten Hälfte des 18. und im frühen 19. Jh. geführt worden, und er ist umstritten (Voth 2001).
Der individuelle Arbeitseinsatz kann einerseits zugenommen haben, weil durch die steigende Vielfalt von Konsumgütern im Rahmen der einsetzenden Globalisierung der Nutzen von Konsum und damit auch von Arbeit (als Grundlage für den Erwerb von Konsumgütern) relativ zu Muße stieg. Andererseits kann es sein, dass der Arbeitseinsatz auch normativ gesteuert wurde, wobei für die frühe Neuzeit religiös-ethische Normen im Vordergrund stehen. Damit schließt die These der Fleißrevolution an die seit Troeltsch und Weber klassische Thematik des Zusammenhangs zwischen Religion und Wirtschaftsstilen an. In neuerer Zeit ist dabei die Weber-These ex negativo von Hersche (2006) auf der Basis einer eindrücklichen Materialfülle zum katholischen Barock entfaltet worden. Erstens argumentiert er, dass in katholischen Regionen mehr Ressourcen für symbolischen Konsum (»Verschwendung«) aufgewandt wurden und dass es in evangelische Regionen für eine Vielzahl von Lebensbereichen Hinweise auf die Verbreitung eines an Langsicht (Elias) orientierten Verhaltens gibt. Insbesondere arbeiteten Menschen in evangelischen Gebieten schlicht wegen der geringeren Zahl an Feiertagen um 1750 wohl gegen 50 Tage mehr als in katholischen Regionen.
Zweitens argumentiert Hersche, dass sich spätjansenistische Kirchenpolitik (Paradigma: die Josephinischen Reformen der 1780er Jahre in den Habsburgischen Ländern) als Politik einer nachholenden Entwicklung verstand: Mit Verfleißigung, insbesondere durch eine Reduktion der Feiertage, und religiöser Toleranz (die wirtschaftlich erfolgreiche Minderheiten fördern sollte) wurde ein Aufholen zu den wirtschaftlich führenden protestantischen Ländern angestrebt. Mit diesem Gesichtspunkt rückt die These der Fleißrevolution in den Kontext der Säkularisierungsthematik. Während die Kirchenpolitik evangelischer Territorien im 16./17. Jh. trotz der Ausdifferenzierung eines Staatskirchenrechts letztlich ekklesiologisch und damit durch einen innerreligiösen Begründungszusammenhang fundiert war, entwickelte sich die spätjansenistische Kirchenpolitik als ein durch außerreligiöse Beweggründe gesteuertes Politikfeld,
das religiöse Belange im Hinblick auf nichtreligiöse Letztwerte (Entwicklung; Gesundheit, etwa bei Aufhebung innerstädtischer Friedhöfe) zu regulieren suchte.
Das eigene Vorhaben zielt erstens auf die Feststellung, ob denn die Menschen in Regionen unterschiedlicher Konfession im 16.-18. Jahrhundert wirklich mit einem unterschiedlichen Zeitverlauf fleißiger geworden sind. Hierzu sind v. a. Gerichtsakten (Aussagen von Zeugen über alltägliche Verrichtungen), Lohnreihen zu unterschiedlichen Arbeitskontrakten und demographische Daten mit statistischen Verfahren zu untersuchen.
Zweitens sollen Verfleißigungspolitiken des 18. Jahrhundert überwiegend in katholischen Gebieten vergleichend untersucht werden. Während der Spätjansenismus in den habsburgischen Ländern vergleichsweise gut untersucht ist, sind katholische Territorien des restlichen Reichs in dieser Hinsicht wenig erforscht, wobei hier mit Ausnahme Bayerns die (aus forschungsstrategischer Sicht reizvolle) Herausforderung darin bestand, dass kirchliche Würdenträger eine nicht an religiösen Maximen orientierte Kirchenpolitik entwickeln mussten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Ausdifferenzierung von Kirchen- und Religionspolitik als eigenständiges Politikfeld. Dazu zählen die Entwicklung von außerreligiösen Begründungszusammenhängen, die Normenproduktion, Vollzugsbestrebungen sowie Feedback (Selbstbeobachtung des Felds durch Berichte; Nachjustierung von Normen). Vollzug und Feedback sind dabei wichtige Vorgänge der Grenzziehung zwischen Religion und Politik, die im konkreten Fall sowohl konfliktreich waren (in einzelnen habsburgischen Gebieten kam es zu kleineren Revolten) als auch eine Neuordnung von Zuständigkeiten und Selbstbeschreibungstechniken erforderten. Durch den Akzent auf der systemischen Schließung des emergenten Politikfelds Religionspolitik kann die Untersuchung auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, mit welchen sozialen Techniken das notorische Vollzugsdefizit des frühneuzeitlichen Staats überwunden wurde.
Als Untersuchungsanlage bietet sich der Vergleich einer habsburgischen Region mit möglichst mehreren Fürstbistümern im restlichen Reich, allenfalls auch mit einem evangelischen Territorium (Sachsen?) an.
Das Projekt ist Teil der Koordinierten Projektgruppe Religiöse Einflüsse auf wirtschaftliche Ordnungen und Handlungen.