US-Philosoph Appiah über Identitäten und Lösungen religiöser Konflikte

Der US-amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah plädiert für Pluralismus ohne Relativismus – Hans-Blumenberg-Vortrag 2024 am Exzellenzcluster

Hans-Blumenberg-Professor Kwame Anthony Appiah über Identitäten und religiöse Konflikte
© EXC - Michael Möller

Pressemitteilung vom 14.06.2024

Religiöse Konflikte lassen sich nach Einschätzung des US-amerikanischen Philosophen Kwame Anthony Appiah durch ein pluralistisches Verständnis von religiösen Identitäten lösen. „In Gesellschaften, die heute unvermeidlich multireligiös sind, sollte jede Gemeinschaft und jede Person ihren eigenen Weg in Sachen religiöse Identität gehen können“, sagte der Blumenberg-Professor am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster am Donnerstagabend. Appiah legte jedoch Wert darauf, dass dies nicht gleichbedeutend mit einer relativistischen Haltung sei. „Ich kann meinen Weg für richtig halten und zugleich überzeugt sein, dass es einer anderen Person erlaubt ist, auf ihre Art zu leben, auch wenn ich sie für falsch halte. Das ist nach meiner Ansicht Kern einer kosmopolitischen Haltung. Sie erfordert jedoch einen Goodwill, der nicht alltäglich ist.“

Der an der New York University lehrende Philosoph unterschied in seinem Vortrag unter dem Titel „Ways of Belonging“ (Weisen der Zugehörigkeit) drei Dimensionen von Religion: Glaubensüberzeugung, Praxis und Identität. Um religiöse Konflikte zu lösen oder zu vermeiden, sei es hilfreich zu prüfen, um welche Dimension es in einem Konflikt im Kern gehe. Appiah illustrierte das an vielen Konflikten aus Geschichte und Gegenwart: vom Streit um Bibel- und Koran-Auslegungen über religiöse Praktiken wie das Kreuzzeichen im Christentum und der Tauhid-Zeigefinger im Islam bis zu verschiedenen religiösen Haltungen etwa zu Homosexualität, Tierwohl oder Gewalt. Er zeigte Konflikte zwischen Religionen auf und auch zwischen ihren Strömungen, etwa innerhalb von Christentum, Islam und Hinduismus.

© EXC - Michael Möller

Glaubensüberzeugungen sind nach den Worten des Blumenberg-Professors keine unveränderlichen Wahrheiten, vielmehr hätten sie sich stets weiterentwickelt. „Die Geschichte der heiligen Texte war immer auch die Geschichte ihrer Leserschaft: mit wechselnden Interpretationen.“ Heute erfolgten Auslegungen zunehmend im Dialog mit anderen religiösen Traditionen. In diesem Miteinander ließen sich, wo möglich, mehr Übereinstimmungen in der Textauslegung finden als zuvor. Das könne zur Konfliktbeilegung beitragen. „Wer allerdings Menschen mit anderer religiöser Identität bereits feindlich gesinnt ist, wird versucht sein, an einer Auslegung festzuhalten, die die Möglichkeiten eines Kompromisses einschränkt.“

„In religiösen Gemeinschaften ist oft Streit, wer dazugehört und wer nicht“

Noch wichtiger sei die alltägliche religiöse Praxis, die meist losgelöst von Überzeugungen sei, sagte Appiah. Ob Kreuzzeichen oder Tauhid-Zeigefinger: Schon an geringfügigen Unterschieden etwa der Gebetspraxis ließen sich Mitglieder einer bestimmten Konfession oder Gemeinschaft erkennen, oder auch Eindringlinge aus einer anderen. Damit bestimme die Praxis die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe und werde zum Marker der religiösen Identität eines Menschen. Welche Praktiken und Normen eine Gruppe kennzeichnen und welche nicht, sei oft Streitthema. „In vielen Gemeinschaften besteht Uneinigkeit, wer dazugehört und wer nicht."

Fotos

© Exzellenzcluster „Religion und Politik“/Michael Möller
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Entscheidend sei es, dass religiöse Identitäten nicht unveränderliche Glaubensvorstellungen, sondern „wandelbare Praktiken innerhalb von Gemeinschaften“ seien. So würden Veränderungen möglich und Konflikte vermeidbar. Auf die Blumenberg-Professur beruft der Exzellenzcluster Persönlichkeiten aus der internationalen Spitzenforschung, die innovative Impulse nach Münster bringen. Am Freitag diskutiert Appiah mit Forschenden des Exzellenzclusters auch über seine Auffassung von Kosmopolitismus und seinen Ansatz zur Dekonstruktion von Identitäten des Glaubens, der Hautfarbe und der Klassenzugehörigkeit. (vvm/tec)

Hans-Blumenberg-Professor Kwame Anthony Appiah

Der vielfach ausgezeichnete Kwame Anthony Appiah wurde 1954 in London geboren und wuchs in Ghana auf. Nach dem Studium der Philosophie und der Promotion in Cambridge lehrte er an den Universitäten Yale, Cornell, Duke und Harvard, bevor er 2002 an die Princeton University wechselte. Seit 2014 ist er Professor für Philosophie und Recht an der New York University. Zu den in deutscher Sprache verfügbaren Werken Appiahs zählen Bücher wie „Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums“ (C.H. Beck 2009) und „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“ (Hanser Berlin 2019).

Hans-Blumenberg-Professur für Religion und Politik

Die „Hans-Blumenberg-Professur für Religion und Politik“ ist benannt nach dem Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996). Auf die Professur werden Forschende aus der internationalen Spitzenforschung berufen, die innovative Impulse nach Münster bringen, in den vergangenen Jahren etwa Maribel Fierro (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid, Spanien), Sarah Stroumsa (Hebrew University of Jerusalem, Israel), Linda Woodhead (Lancaster University, Vereinigtes Königreich), Jóhann Páll Árnason (La Trobe University, Melbourne, Australien) und Mark Juergensmeyer (University of California, Santa Barbara, USA).