Thierse warnt vor Aggressionen gegen Mehrheitsgesellschaft
Podium „Wie viel Identitätspolitik braucht unsere Gesellschaft?“ – Genderforscherin Andrea Geier: „Probleme konkret benennen“ – Schriftstellerin Mithu M. Sanyal plädiert für ein vielfältigeres Deutschlandbild – Islamischer Theologe Mouhanad Khorchide: „Gruppenzugehörigkeit konstruiert Fronten“ – Ostdeutsche Identitätspolitik führte laut Soziologe Detlef Pollack zu Anerkennung
Pressemitteilung vom 22. April 2021
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat linke Identitätspolitiker vor aggressiven Anwürfen gegen die Mehrheitsgesellschaft gewarnt. „Wenn man etwas für Minderheiten erreichen möchte, muss man Mehrheiten gewinnen“, sagte der Politiker am Mittwochabend in Münster. „Je heftiger man sie aber angreift und verdächtigt, umso mehr wehren sie ab.“ Das verhindere, dass sie sich mit Bilck auf diskriminierendes Verhalten selbst überprüften. Auf seine jüngsten Medienbeiträge zur Identitätspolitik habe er zwar Shitstorms erhalten, „aber auch viel Dank für den Mut, dass ich ausspreche, was sich viele nicht zu sagen trauen.“ Die Trierer Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier hielt entgegen, eine „Ich darf nichts mehr sagen“-Haltung zeuge von mangelnder Veränderungsbereitschaft.
„Wir sind in einem schwierigen Transformationsprozess“, führte die Genderforscherin aus. „Wir waren lange eine Mehrheitsgesellschaft, die Minderheiten in Integrationsdebatten erlaubte, Bedürfnisse zu artikulieren. Diese sind aber jetzt in die Mitte gerückt. Wir brauchen Vielfalts- statt Integrationsdebatten.“ Entscheidend sei es, die Debatten konkret zu machen und klar zu beschreiben, „wem unsere Gesellschaft Chancen eröffnet und wem nicht. Wir sollten konkret an einzelnen Problemstellungen wie Rassismus oder Sexismus arbeiten.“ Thierse wiederum betonte, „in Debatten um Benachteiligungen sollte das Opfer das erste Wort haben, aber es muss nicht immer das letzte Wort haben“. Auch Mehrheiten hätten kulturelle und soziale Rechte. Das müsse in einer Demokratie mühsam ausgehandelt und in Politik überführt werden.
Thierse und Geier sprachen auf einem Podium zum Thema „Wie viel Identitätspolitik braucht unsere Gesellschaft?“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Zentrums für Islamische Theologie der Uni Münster. Sie diskutierten mit der Schriftstellerin Mithu M. Sanyal, dem islamischen Theologen Mouhanad Khorchide und dem Soziologen Detlef Pollack.
Sanyal für Leitbild „Unity and Diversity“
Schriftstellerin Mithu M. Sanyal hob hervor, dass in Deutschland seit kurzem erstmals eine breitere Rassismus-Debatte geführt werde. „Lange hieß es, es gebe keine Menschenrassen, also könne es auch keinen Rassismus geben. Ich bin in Deutschland geboren, trotzdem war das einzige Wort für Menschen wie mich ‚Ausländerin‘“, so die Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters. Immer wieder sei es um ihre Hautfarbe gegangen. „Dabei gibt es durchaus weiße Deutsche mit dunklerer Hautfarbe als meiner.“ Sanyal: „Wir brauchen ein anderes Selbstbild von Deutschland. Wir sind divers. Aber wer im Internet auf Bildersuche für ‚Deutsch‘ geht, sieht fast nur weiße Menschen, der Suchbegriff ‚Kanada‘ dagegen zeigt ein repräsentatives Bild der dortigen Bevölkerung. Wir bräuchten ein ähnliches Leitbild wie ‚Unity and Diversity‘.“ Die Kulturwissenschaftlerin fügte an, Deutschland setze sich schließlich auch mit seiner faschistischen Vergangenheit auseinander. Es sei an der Zeit, auch den Kolonialismus aufzuarbeiten.
Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide sagte auf dem Podium, „wir nehmen oft eine moralische Einteilung der Gesellschaft in Gruppen vor – Täter, Opfer, Gute, Schlechte, Rassisten, Nicht-Rassisten. Gerade mit den Zugehörigkeiten zu Gruppen und Identitäten konstruieren wir aber Fronten.“ So assoziierten Nicht-Muslime den Islam oft pauschal mit Gewalt, Muslime wiederum bezeichneten den Westen als rassistisch und sich selbst als Opfer. Konkrete Anhaltspunkte könnten aber beide Gruppen nicht geben. „Wir sollten besser sachbezogen diskutieren, als Gruppenzugehörigkeiten zu bestimmen.“ Der Wissenschaftler sprach auch über Diskriminierungen innerhalb von Minderheitengruppen. Das sei etwa der Fall, wenn er selbst als liberaler Muslim Kritik an der islamischen Community übe. „Wer dies tut und sich auch nicht als Opfer der Mehrheitsgesellschaft stilisiert, gilt als Nestbeschmutzer.“
Der Soziologe Detlef Pollack schilderte als Beispiel für die Identitätspolitik einer Minderheit seine eigenen Erfahrungen als Ostdeutscher nach dem Mauerfall. Diese Gruppe sei von der westdeutschen Mehrheit lange nicht auf Augenhöhe behandelt und für die DDR-Vergangenheit massiv kritisiert worden. „So entstand nach der Wende eine starke ostdeutsche Identität.“ Deren Identitätspolitik sei durchaus nötig und erfolgreich gewesen: Im Vergleich zu den 1990ern würden Ostdeutsche heute ganz anders behandelt. „Die Gesellschaft ist offenbar fähig zu lernen und hat aufgehört, Ostdeutsche herabzusetzen oder in Stereotypen über sie zu sprechen.“ Diese Erfahrung, so der Soziologe, gebe Grund für die Hoffnung, dass „die bundesdeutsche Gesellschaft in der Lage ist, den Minderheiten, über deren Benachteilgungen heute gesprochen wird, mit mehr Offenheit, Großzügigkeit und Gelassenheit zu begegnen.“
Die Veranstaltung ist Teil des laufenden Themenjahrs „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ des Exzellenzclusters. Die Forschenden aus Geistes- und Sozialwissenschaften erörtern an Fallbeispielen von der Antike bis heute, wie Zugehörigkeiten zu Gruppen und Identitäten entstehen, wie sie Konflikte provozieren und sozialer Ausgleich zustande kommen kann. Die Moderation der Diskussion hatte der Journalist Meinhard Schmidt-Degenhard. (vvm)