Jan Assmann: Internet ungeeignet als kulturelles Speichergedächtnis
Der Kulturwissenschaftler und Blumenberg-Professor spricht am Exzellenzcluster über Wirkungen der Digitalisierung auf das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften
Pressemitteilung vom 3. Februar 2021
Das Internet verfehlt nach Einschätzung von Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Jan Assmann wichtige Funktionen im kulturellen Gedächtnis von Gesellschaften. „Zunächst eignet es sich nicht als Speichermedium, dafür fehlt die Zuverlässigkeit“, sagte der Blumenberg-Gastprofessor am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Was man heute im Web entdeckt, wird man morgen dort nicht zuverlässig wiederfinden.“ Darüber hinaus könne das Internet auch keine Relevanzfunktionen übernehmen: „Was morgen als bedeutsamer Teil unserer Vergangenheit angesehen wird und im kulturellen Gedächtnis fortleben wird, entscheidet sich nicht im Web.“
Zwar steigere das Internet enorm die Zirkulation von Wissen und Gedächtnisinhalten, es erleichtere auch den Zugriff auf vielfältige Überlieferungsbestände, so Assmann. Das gelte etwa für den digitalen Zugang zu Bibliotheken und Archiven, in denen Wissen kanonisiert vorliege. „Doch wer solche Relevanzstrukturen nicht schon im Kopf hat, dem bietet sie auch das Internet nicht an – er wird ohne sie nicht finden, was er braucht.“ In dem Umfang, in dem das Web die Zirkulation erhöhe, löse es die Bedeutungsperspektiven des Kanons auf.
Der Ägyptologe, der die Hans-Blumenberg-Gastprofessur des Exzellenzclusters im Wintersemester 2020/21 innehat, äußerte sich in einem Workshop über das Konzept des Kulturellen Gedächtnisses in Zeiten des digitalen Medienwandels, das er mit seiner Frau Aleida Assmann entwickelt hat. Den Ausgangspunkt bildet die Vorstellung, dass Kultur mittels Regeln und Werten Menschen untereinander verbindet und durch die Erinnerung an eine geteilte Vergangenheit eine Brücke vom Gestern zum Heute bildet. Bilder und Schrift ermöglichen dabei Rückgriffe auf Vergessenes.
„Neue Religionsangebote mit digitaler Gemeinde“
Der Kulturwissenschaftler sprach auch über die Wirkungen der Digitalisierung auf die Religionsgeschichte. „Die Glaubensreligion, wie wir sie heute kennen, lebt von der Leiblichkeit. Die feiernde, betende, zuhörende Gemeinde lässt sich nicht digitalisieren“, so Jan Assmann. „Die Sozialform der Gemeinde gehört zur Signatur dieses Glaubens. Manches spricht jedoch dafür, dass sich eine neue Religion mit einer digitalen Gemeinde von Usern etabliert.“ Die offline erlebte Religion werde sie aber kaum ersetzen, sie werde allenfalls als eine Besonderheit im Markt kultureller Angebote existieren – „so wie das E-Book neben herkömmlich gedruckten Büchern existiert, ohne ihnen den Rang streitig zu machen.“
Der Ägyptologe verglich die Entstehung des Internets mit der Erfindung der Schrift 3.000 vor Christus und des Buchdrucks um 1500 nach Christus. Dies seien in der Geschichte der Medien Innovationen von ähnlich epochaler Bedeutung. „Schrift und Buchdruck haben Dynamiken von Tradition und Innovation enorm befördert, das gilt auch für die Dynamik des Religiösen: Die Erfindung der Schrift hat den Monotheismus zwar nicht hervorgebracht, und der Buchdruck nicht die Reformation – doch beide sind ohne diese Medieninnovation undenkbar.“
Im Programm der Blumenberg-Gastprofessur folgt eine Masterclass „Religion – Gewalt – Gedächtnis“ mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs des Forschungsverbundes sowie fortgeschrittenen Studierenden. Die „Hans-Blumenberg-Gastprofessur für Religion und Politik“ ist nach dem einflussreichen Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996) benannt und soll dazu beitragen, innovative Impulse nach Münster zu bringen, und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit am Exzellenzcluster stärken. Im Sommersemester 2021 folgt der Sozialwissenschaftler Marc Helbling von der Universität Mannheim mit Forschungen zu Integration, Xenophobie und der dynamischen Rolle von Religion in der Politik. (vvm/maz)