„Zu wenig Religionsvielfalt in Rundfunkräten“
Kommunikationswissenschaftler Tim Karis über Religion und staatliche Medienregulierung – Abschluss der Reihe „Religionspolitik heute“
Über den Umgang mit Religionsvielfalt in der staatlichen Medienregulierung in Deutschland und den Niederlanden hat der Kommunikationswissenschaftler Dr. Tim Karis von der Uni Bochum in der Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Centrums für Religion und Moderne (CRM) der Uni Münster gesprochen. Er befasste sich insbesondere mit der personellen Besetzung der Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Anstalten der ARD sowie den Räten von ZDF und Deutschlandradio sowie mit den Drittsenderechten, also dem Recht von Religionsgemeinschaften auf eigene Sendezeit im Rundfunk. Die Plätze in den Räten sowie das Recht auf eigene Verkündigungssendungen seien aus historischen Gründen überwiegend auf die christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden beschränkt. „Es lässt sich hier von einer christlich-großkirchlichen Schlagseite der religionspolitischen Verfassung des Landes sprechen, die sich im Medienrecht niederschlägt.“
In den Rundfunkräten sei zwar eine gewisse, wenn auch nicht flächendeckende Offenheit für die Einrichtung muslimischer Vertreter zu erkennen, so Tim Karis. „Kleinere religiöse Gruppierungen kommen jedoch fast gar nicht zum Zug.“ Auch im Bereich der Drittsenderechte erweise sich die Privilegierung für die christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden als „bemerkenswert beständig“. Der interdisziplinär ausgerichtete Vortrag hieß „Koschere Kochshows, muslimische Rundfunkräte und das ,Wort zum Sonntag‘. Religion und Medienregulierung in Europa“. Der Forscher legte detailliert die historischen, medienpolitischen und medienrechtlichen Vorgänge dar, die seit der Nachkriegszeit mit Blick auf die Religionsvielfalt zum Status Quo in der staatlichen Medienregulierung geführt haben.
„Medien prägen unsere Wahrnehmung von Religionen“
Die Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation des Exzellenzclusters, Viola van Melis, erörterte im sich anschließenden Kommentar, wie sich die gewachsene Religionsvielfalt in Rundfunkträten und Drittsenderechten niederschlagen könne und begründete dies religionspolitisch: Die Gesellschaft habe sich noch nicht an die religiöse Vielfalt gewöhnt, vielmehr sehe eine Mehrheit sie Umfragen zufolge als bedrohliche Ursache von Konflikten an. „Hier kommt den Medien eine eminent politische Rolle zu, denn angesichts der hohen Mediennutzung prägt kaum etwas unsere Wahrnehmung anderer Religionen so stark wie sie.“ Umso wichtiger sei es, dass öffentlich-rechtliche Medien über vielfältige religiöse Gruppen, ihre Glaubenssätze und Praktiken, ihre historischen, regionalen und theologischen Hintergründe mehr und genauer informierten als bisher und ihnen eine gemeinsame Plattform böten, auf der sie sich selbst erklären könnten.
„Wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die besser über andere Religionen und Weltanschauungen informiert sind“, sagte die Wissenschaftskommunikatorin und Religionsfachjournalistin. Wer medial mit einem Thema vertraut werde, bei dem könne die Hemmschwelle sinken, sich dem Kontakt auch persönlich zu stellen. „Nur so werden Menschen bereit sein, religiöse Interessen konstruktiv auszuhandeln, vom Gebet auf dem Campus bis zum koscheren Kantinenessen.“ Andernfalls würden religiöse Fragen weiterhin in der Gesellschaft polarisieren und zu Konflikten führen. „Könnten in den Rundfunkräten also künftig auch kleinere religiöse Gruppen ihre Sicht in die Programmaufsicht einbringen, gewänne das Programm letztlich an Vielfalt.“ Auch beim Drittsenderecht sei eine Ausweitung wünschenswert, „damit weit mehr Gruppen ihre Religion und ethischen Überzeugungen präsentieren. Ihre Vertreter würden so auch geschult, sich im pluralen Kontext zu erklären und nicht in der eigenen Sprach- und Denkwelt zu verharren – ein Plus für den religionspolitischen Diskurs.“
„Niederlande hat religionsfreundliches System aufgegeben“
Kommunikationswissenschaftler Tim Karis schloss seinen Ausführungen zur deutschen Situation einen Vergleich mit den Niederlanden an. „Dieser ist von Interesse, weil hier ein vormals äußerst religions- und pluralitätsfreundliches System der Verteilung von Sendezeit kürzlich, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, aufgegeben wurde.“ In der Tendenz gehen die Niederlande nach Einschätzung des Wissenschaftlers damit weg von einem Prinzip „alle Rechte für alle“ hin zu einem Grundsatz „keine Rechte für irgendeine Religion“.
Mittelfristig werde auch im deutschen Medienrecht über diese Alternativen entschieden werden müssen, so der Forscher. Die Medienpolitik könne der religiösen Vielfalt nur auf zwei Wegen gerecht werden: „Entweder müssen die Privilegien für alle ausgeweitet oder die Entfaltungsmöglichkeiten aller Religion im öffentlichen Raum zurückgebaut werden.“ Um mehr religiöse Vielfalt in die Rundfunkräte zu bringen, eine zu starke Vergrößerung der Gremien aber zu verhindern, eignen sich nach Einschätzung von Tim Karis sogenannte Körbemodelle, bei denen sich kleinere Gruppen einen Sitz teilen. Nach welchen Kriterien dies geschehen solle, bleibe eine Herausforderung: „Auch der größte Korb ist irgendwann voll“.
Neue Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“
Der Vortrag bildete den Abschluss der öffentlichen Ringvorlesung „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“. Die Reihe des Sommersemesters befasste sich mit aktuellen Fragen der Religionspolitik. Ziel der Vorträge und Podien war es, Grundsatzfragen sowie aktuelle Konflikte und Lösungen zu erörtern, auch im internationalen Vergleich. Die Reihe brachte Wissenschaft, Politik, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften durch Vorträge und Podiumsdiskussionen ins Gespräch.
Im kommenden Wintersemester lädt der Exzellenzcluster zur Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ ein. Die Reihe, die gemeinsam mit dem Sonderforschungsbereich „Kulturen des Entscheidens“ der WWU entsteht, beginnt am Dienstag, 18. Oktober 2016, mit einem Einführungsvortrag des Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und der Historikerin Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger. (ska)