Wie Europa Indien sah
Ringvorlesung endet mit Vortrag zum Wandel des europäischen Indien-Bildes
Über die europäische Wahrnehmung von Indien zu verschiedenen Zeiten und die damit einhergehende Vorstellung vom Westen als Zukunft der Welt hat die Historikerin Prof. Dr. Antje Flüchter aus Bielefeld am Dienstag in der Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“ des Exzellenzclusters gesprochen. Sie legte dar, wie verschiedene „Zeitregime“, also die Art wie Zeit – das Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – verstanden wird, die Weltdeutung allgemein und eben auch das europäische Bild des indischen Mogulreichs strukturierten. Der Vortrag trug den Titel „Indien im ,Warteraum der Geschichte‘? Wie der Westen zur Zukunft der Welt wurde“. Damit endete die Vortragsreihe des Exzellenzclusters, die sich der Geschichte apokalyptischen und utopischen Denkens von der Antike bis heute widmete.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei Indien vor allem als „Entwicklungsland“ wahrgenommen worden, so Prof. Flüchter. „In diesem Begriff spiegelt sich die Rückständigkeit des Landes, aber auch sein Potential, sich in Richtung der ersten, entwickelten Welt zu bewegen.“ Der Westen sei in dieser konzeptionellen Rahmung als Zukunft der unterentwickelten Welt gesehen worden. „In den vergangenen Jahrzehnten sind solche Fortschrittsideen zunehmend brüchig geworden und werden so auch selbst historisierbar. Verschiedene Zeitregime werden erkennbar.“
Am Beispiel des höfischen Zeremoniells und der Elitenformation in Indien und in Europa arbeitete die Wissenschaftlerin die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung Indiens des 17. Jahrhunderts heraus und stellte diese dem neuen, modernen Zeitregime seit dem späten 18. Jahrhundert und vor allem im 19. Jahrhundert gegenüber. Reisende des 17. Jahrhunderts sahen und verstanden das höfische Zeremoniell des Mogulhofs demnach genauso wie das Zeremoniell in Europa. „Diese höfische Welt war gleichzeitig und ähnlich, sie konnte sogar zum Vorbild guter barocker Herrschaft werden“, sagte Prof. Flüchter. Sie verdeutlichte dies an dem Kunstwerk Der indische Hofstaat zum Geburtstag des Großmoguls von Johann Melchior Dinglinger (1664-1731) aus dem Grünen Gewölbe in Dresden. „Im frühen 19. Jahrhundert verschwand die Gleichzeitigkeit und vor allem die Dynamik aus der Indien-Wahrnehmung.“ Stattdessen sei im Anschluss an die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, beeinflusst vor allem durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), die asiatische Geschichte allgemein und die Geschichte des Mogulreichs im Besonderen als ungeschichtlich und statisch verstanden worden. Das neue Zeitkonzept und die Machbarkeit des geschichtlichen Fortschritts hätten so auch dazu gedient, den europäischen Kolonialismus als civilizing mission (Zivilisierungsmission) zu legitimieren.
Auch die europäische Wahrnehmung der Elitenformation in Indien und Europa hat sich dem Vortrag zufolge gewandelt: So hätten die Reisenden im Mogulreich eine für Europäer unvertraute, weil an Leistungskriterien ausgerichtete Elitenkonstituierung beobachtet, sagte die Historikerin. „Im 17. Jahrhundert wurde diese vor allem negativ bewertet, passte sie doch nicht in die europäisch-christliche Vorstellung einer guten Ordnung.“ Dieses dynamische Element der Gesellschaft des Mogulreichs sei ebenfalls an der Wende zur Moderne aus dem Indiendiskurs verschwunden, „und zwar genau in dem Moment, als in Europa eine positive Bewertung von Gleichheit und sozialer Mobilität einsetzte.“ Indien sei nun vor allem durch seine hinduistische Kultur charakterisiert worden. „Hinsichtlich der Gesellschaftsordnung rückte die als versteinert wahrgenommene Kastenordnung in den Vordergrund.“ Andererseits sei das Mogulreich, soweit es noch thematisiert wurde, als orientalische Despotie verstanden worden. „Der Despot herrschte über Sklaven, deren Aufstieg und Fall von dessen Willkür und nicht der eigenen Leistung abhing.“ Ein „modernes“ nicht-europäisches Phänomen zu einem Zeitpunkt, als Europa noch „vormodern“ war – damit eine „umgedrehte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, habe nicht mehr in den Diskurs gepasst. „Aus einem dynamischen und gleichzeitigen Reich wurde der statische und despotische Orient“, erläuterte Prof. Flüchter. Das Wissen um erst wenige Jahrzehnte vergangene Interaktion, Ähnlichkeit und Gleichzeitigkeit sei so aus dem Diskursherausgeschrieben worden. Die Historikerin zog die Schlussfolgerung: „Dass Europa zur ,Zukunft der Welt‘ wurde, lag nicht nur an einem unbestrittenen Umschwung der Machtverhältnisse, sondern mindestens ebenso an der Etablierung des neuen, aus der Aufklärung stammenden Zeitregimes.“
„Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“
Der Vortrag bildete den Abschluss der Ringvorlesung über Zukunftsvisionen, die das Habilitandenkolleg des Forschungsverbunds organisierte. Zu Wort kamen Vertreter verschiedener Fächer: Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft, Germanistik, Philosophie, Archäologie, Ägyptologie und Kulturwissenschaft. Die Themen der Vorträge reichten von prophetischen Texten aus dem antiken Ägypten über geschichtsphilosophische Zukunftsentwürfe bis zu Kino-Erzählungen wie „Avatar“ und „Cloud Atlas“.
Die nächste öffentliche Ringvorlesung des Exzellenzclusters befasst sich im Sommersemester mit dem Thema „Transfer zwischen Religionen. Wenn religiöse Traditionen einander beeinflussen“. Die Reihe beginnt am 14. April 2015 und erörtert, wie es zwischen Religionen in verschiedenen Kulturräumen und historischen Epochen zu vielfältigen Formen der Beeinflussung und des Transfers von religiösen und kulturellen Traditionen kam. Sie geht diesen Austausch- und Rezeptionsprozessen von der Spätantike bis in die unmittelbare Gegenwart nach. Veranstalter sind die Koordinierte Projektgruppe „Transfer zwischen Weltreligionen“ und das Centrum für religionsbezogene Studien (CRS) der WWU. (bhe/vvm)