„Konversionen und die Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz“
Judaistin Regina Grundmann über die Taufe deutscher Juden im 19. Jahrhundert
Mit Übertritten deutscher Juden zum Christentum im 19. Jahrhundert hat sich die Judaistin Prof. Dr. Regina Grundmann vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in der öffentlichen Ringvorlesung „Konversion. Glaubens- und Lebenswenden“ beschäftigt. Die Gründe, die Juden in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu bewogen hätten, zum Christentum überzutreten, seien vielfältig und komplex gewesen. Ein Beispiel für Konversionen, die aus religiöser Überzeugung erfolgt seien, sei die Taufe Brendel Mendelssohns, bekannter als Dorothea Schlegel, die zunächst zum Protestantismus und später zusammen mit ihrem Mann Friedrich Schlegel zum Katholizismus übergetreten sei. Bei vielen anderen stand Prof. Grundmann zufolge jedoch das Motiv im Vordergrund, rechtlicher Benachteiligung, gesellschaftlicher Diskriminierung und Judenhass zu entkommen. „Diese Übertritte zum Christentum waren nicht religiös motiviert, sondern durch die Hoffnung, durch diesen Schritt die rechtliche Gleichstellung und die gleichen beruflichen Möglichkeiten wie die christliche Bevölkerung zu erhalten, ja sogar gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Die Taufe wurde als Ausweg gesehen“, so die Judaistin.
Anhand verschiedener Biographien, etwa der Familie Mendelssohn-Bartholdy und des Dichters Heinrich Heine (1797-1856), legte Prof. Grundmann dar, unter welchen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und mit welchen Zielen Juden zum Christentum konvertierten. Sie ging der Frage nach, inwiefern die Konversionen zur gesellschaftlichen Integration geführt haben.
Der äußerst langwierige Emanzipationsprozess in den deutschen Staaten, der Ende des 18. Jahrhunderts seinen Anfang genommen hatte, wurde 1871 mit der Verfassung des deutschen Reiches abgeschlossen. Viele junge jüdische Intellektuelle hätten große Hoffnungen in das 1812 erlassene „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ gesetzt. Dieses Edikt sei zwar ein wichtiger Schritt gewesen, habe aber nicht zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung geführt. Zu Staatsämtern seien Juden nach wie vor nicht zugelassen gewesen. Seitens der Emanzipationsgegner seien verschiedene Schriften verfasst worden, die der jüdischen Bevölkerung das Recht auf die bürgerliche Gleichstellung abgesprochen hätten, erläuterte die Judaistin. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. habe aktiv die 1822 gegründete „Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter Juden“ unterstützt.
Akkulturierte jüdische Intellektuelle, die dem Judentum und zum Teil auch jeglicher möglichen Form von Religion entfremdet gewesen seien, ließen sich oft taufen, um mit einem solchen Schritt ihre gesellschaftliche Integration zu erreichen und ihre Identifikation mit der deutschen bürgerlichen Nationalkultur unter Beweis zu stellen. Gerade das Beispiel Heinrich Heine zeige, wie schwer es sich die jungen jüdischen Intellektuellen zuweilen mit der Taufentscheidung gemacht hätten, unterstrich Prof. Grundmann. Der Dichter habe zunächst lange über diesen Schritt nachgedacht. Die 1825 erfolgte Taufe habe er anschließend bereut. Heines Diktum des „nie abzuwaschenden Juden“ fasse die Erfahrungen vieler Konvertitinnen und Konvertiten vom Judentum zum Christentum in der ersten Hälfte 19. Jahrhundert zusammen, dass die Taufe nicht zu der erhofften gesellschaftlichen Akzeptanz geführt habe.
Die Referentin ist Professorin für Judaistik an der Universität Münster. Am Exzellenzcluster leitet sie das Projekt C2-22 „Traditionstransfer im Yalqut Shimoni und Midrash ha-Gadol“. 2011 wurde Prof. Grundmann in das „Junge Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste“ aufgenommen. Der Vortrag trug den Titel „Die Taufe als ,Entre Billet zur Europäischen Kultur‘? Übertritte vom Judentum zum Christentum im Deutschland des 19. Jahrhunderts“.
Von der Antike bis heute
Die Ringvorlesung des Exzellenzclusters im Wintersemester 2015/16 untersucht religiöse, aber auch politische und weltanschauliche Konversionen von der Spätantike bis heute. In der Reihe kommen Vertreter verschiedener Disziplinen zu Wort: der Geschichts- und der Rechtswissenschaft, der Ethnologie, Theologie, Arabistik, Germanistik, Indonesischen Philologie, der Judaistik und der Mittellateinischen Philologie.
Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Den nächsten Vortrag am 12. Januar hält die Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins vom Exzellenzcluster zum Thema „,Zeitlebens eine Neubekehrte…‘: Konversion als Biographiemuster. Spurensuche im Werk von Madeleine Delbrêl (1904–1964)“. (ska)