Widerstand und Kollaboration
Historiker Olaf Blaschke legt Überblicksband zu Kirchen und Nationalsozialismus vor
Das Verhältnis der beiden christlichen Kirchen zum NS-Staat und seiner Ideologie steht im Mittelpunkt des neuen Überblicksbandes „Die Kirchen und der Nationalsozialismus“ von Zeithistoriker Prof. Dr. Olaf Blaschke vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Der Autor zeichnet in der Neuerscheinung aus dem Reclam Verlag die Entwicklungen der katholischen und evangelischen Kirche und ihrer Gläubigen zwischen Anpassung oder Gefolgschaft und Widerstand paritätisch nach. Zudem vergleicht er sie, trotz Trennung der Kirchen und ihres institutionellen Verhältnisses zum NS-Staat, miteinander.
„Das Verhältnis von Kreuz und Hakenkreuz ist eines der großen prominenten Themen der deutschen Zeitgeschichtsforschung“, so der Wissenschaftler. „Viele Forschungsarbeiten dazu verlieren sich oft allzu tief in Details. Brauchbare und konfessionsübergreifende Überblicksdarstellungen zu dieser schwierigen Frage und zur bisherigen Forschung, die den Kontroversen nicht ausweichen, gibt es hingegen nur wenige. Die vorhandenen leiden zudem oft unter einer, je nach Autor, konfessionellen Schlagseite.“ Das neue Reclam Sachbuch soll diese Lücke füllen.
Zentrales Thema des Bandes ist die Kontroverse, ob Christentum und Faschismus miteinander unvereinbar waren, oder ob es eine gewisse Nähe zwischen beiden gab. Das Buch geht deshalb den Fragen nach, ob der Nationalsozialismus selber vielleicht gar als eine Art Ersatzreligion lockte, und was das Christentum zum Antisemitismus beitrug. Standen die Kirchen sowie vor allem die gläubigen Menschen im Nationalsozialismus eher für Resistenz oder für Konsens? „Sie deckten das gesamte Spektrum von der Kollaboration bis zum Widerstand ab, wie zahlreiche Forschungen inzwischen nachweisen. Es wäre ein Mythos zu sagen, dass die Kirchen vor allem im Widerstand aktiv waren“, unterstreicht der Autor. Diese Bild sei aber noch höchst lebendig, schreibt Olaf Blaschke und zeigt dies anhand einschlägiger Beispiele. Es sei erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Kirchen bis heute in jedem mit „Widerstand“ überschriebenen Buch oder Kapitel wiederfänden.
Das Buch unternimmt im ersten Kapitel unter dem Titel „Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)“ einen internationalen Vergleich. Es gelte, „die konventionelle nationale Fixiertheit“ der Forschung zu überwinden, betont Prof. Blaschke in der Einleitung. Der Blick auf andere Diktaturen, etwa in der Sowjetunion, Ungarn, Italien und Spanien, habe den Horizont für mögliche Handlungsspielräume der Christen in Deutschland ab 1933 geweitet. „Der wissenschaftliche Vergleich mit anderen Regimen lohnt sich. Schon damals zogen Christen und Nationalsozialisten aus dem, was sie in anderen Ländern beobachteten, ihre Lehren, sei es als Orientierung, sei es als Warnung.“
Der Überblicksband ist nach Themenschwerpunkten chronologisch gestaffelt. Jedes der neun Kapitel enthält eine problemorientierte Analyse, die durch eine ihm verwandte Forschungskontroverse vertieft und abgeschlossen wird. Die Darstellung durchmisst nach dem europäischen Überblick die Weimarer Republik und widmet sich dann in fünf Phasen der NS-Diktatur. Am Ende beleuchtet der Autor die Vergangenheitspolitik der Kirchen ab 1945. Eine ausführliche Zeittafel in drei Spalten (NS – Protestantismus – Katholizismus), die auf der Verlagsseite heruntergeladen werden kann, ergänzt die Ausführungen und gibt einen Überblick über wichtige Daten und Ereignisse in Deutschland und in anderen europäischen Ländern von 1917 bis 1945 sowie zentrale Kirchenverträge und Enzykliken.
Historiker Prof. Dr. Olaf Blaschke hat seit 2014 den Lehrstuhl für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der WWU inne und leitet seit Oktober am Exzellenzcluster das Projekt C2-26 „Der Ultramontanismus als transnationales und transatlantisches Phänomen 1819-1918“. Das Buch basiert auf zwei Vorlesungsreihen, die der Wissenschaftler 2008 an der Universität Trier und 2012 an der Universität Heidelberg hielt. (Reclam/ska/vvm)
Inhaltsverzeichnis:
I. Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)
Kontroverse 1: Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität?
II. Kirchen und Konfessionalismus in der Weimarer Republik (1919–1933)
1. Konfessionelle Milieus in der Demokratie ohne Demokraten
2. Ende des Parlamentarismus 1930, Führersehnsucht und Brünings autoritäres Regime
3. Hitlers christliche Wähler
Kontroverse 2: Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?
III. »Nationale Revolution« und Umwälzung in den Kirchen (1933)
1. Kehrtwende im Katholizismus und Reichskonkordat
2. Überanpassung im Protestantismus: Die Deutschen Christen
3. Die Verfolgung von Regimegegnern, Sozialisten, Christen und Juden
Kontroverse 3: Das Reichskonkordat: »Teufelspakt« oder Verteidigungslinie?
IV. Orientierungssuche und »Kirchenkampf« (1933–1935)
1. Angriff auf die Milieustrukturen und kirchlichen Vorfeldorganisationen
2. Die Verfolgung von Geistlichen, kirchentreuen Beamten und Politikern
3. Auseinandersetzung mit Rosenbergs Mythus und dem Neuheidentum
4. Der »Kirchenkampf«
Kontroverse 4: Entkonfessionalisierung der Volksgemeinschaft – Vorwand oder Faktor?
V. Die Zurückdrängung der Kirchen in der Prominenzphase des Regimes (1935–1939)
1. ›Adolf-Kurve‹ und Kirchenaustritte
2. Schärfere Pfarrerverfolgung
3. Geschlechtergeschichtliche Prägungen des »Kirchenkampfes«
4. Amtskirchliche Proteste
5. Der »Anschluss« und das Christentum in Österreich
6. Judenverfolgung und brennende Synagogen
Kontroverse 5: Christentum, Antisemitismus und Judenverfolgung
VI. Vier christliche Positionierungsmöglichkeiten
1. Christlich-antiklerikale Gottgläubige
2. Nationalsozialistische Christen
3. Konsens, Anpassung und Ambivalenz
4. Resistenz
Kontroverse 6: Widerstand und Resistenz – oder Kollaboration und Konsens?
VII. Die Kirchen im Krieg (1939–1941)
1. Hoffnung auf den Burgfrieden
2. Der gerechte und der Vernichtungskrieg
3. Protest gegen Eugenik und Euthanasie
4. Weitere Zurückdrängung der Kirchen
Kontroverse 7: »Endlösung der Kirchenfrage« – Intention oder Radikalisierung?
VIII. Die Kirchen im Weltkrieg (1941–1945)
1. Kämpfen für das Vaterland bei wachsender Distanz zum Regime
2. Der Genozid und die Wannsee-Konferenz
3. Christen im Widerstand vom 20. Juli 1944
Kontroverse 8: Die Christen und die Judenvernichtung – Mittäter, Opfer, schweigende Zuschauer?
IX. Triumphieren und Vertuschen: Kirchliche Vergangenheitspolitik seit 1945
1. Schuldbekenntnisse in Trümmern
2. Hilfe für NS-Täter und Verurteilte
3. Die schleppende Aufarbeitung
Kontroverse 9 und Resümee: Versagen oder Bewährung der Kirchen?
Hinweis: Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart: Reclam Sachbuch 2014, 288 Seiten, ISBN: 978-3-15-019211-5, 8,00 Euro.
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