„Reformationsgedenken zu sehr auf Luther zentriert“
Historiker kommentiert kirchliche und staatliche Gedenkaktivitäten zum Jubiläum 2017
Die kirchlichen und staatlichen Aktivitäten zum Reformationsjubiläum 2017 sind aus Historikersicht „ein Musterfall für das schwierige Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit“. In Ausstellungen, Tourismus-, Schul- und Musikprojekten werde die Erinnerung an die religiöse Erneuerungsbewegung sehr stark auf den Wittenberger Reformator Martin Luther (1483-1546) zugespitzt, schreibt Reformationshistoriker Prof. Dr. Matthias Pohlig vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ auf www.religion-und-politik.de. Dies sei einer der Gründe dafür, warum Reformationshistoriker ein Problem mit den Jubiläumsaktivitäten hätten. (vvm)
Der Beitrag
Das Reformationsjubiläum 2017 wirft unübersehbar seinen Schatten voraus: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat bereits vor einigen Jahren eine „Lutherdekade“ ausgerufen und für jedes der zehn Jahre einen Schwerpunkt festgelegt, dem zahlreiche Veranstaltungen folgen: Reformation und Bildung, … und Freiheit, … und Musik, … und Toleranz, … und Politik, … und so weiter. Auch die Politik vor allem der ostdeutschen Bundesländer nutzt das Jubiläum, insbesondere für eine Tourismusoffensive. Kaum ein Museum wird es sich nehmen lassen, für 2017 eine Reformationsausstellung zu organisieren (man darf gespannt sein, wo all die Exponate dafür herkommen werden). Die Reformationsforschung hat also Grund zur Freude: Die religiöse Erneuerungsbewegung, die vom Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther angestoßen wurde, hat ausnahmsweise die Chance, auf gesteigertes öffentliches Interesse zu stoßen. Allerdings ist unklar, welche Rolle die historischen Wissenschaften (im Wesentlichen die Geschichtswissenschaft und die evangelische Kirchengeschichte) im Rahmen des Jubiläums einnehmen wollen, sollen und können. Mein Eindruck ist: Die Reformationsforschung als ganze oder jedenfalls gar nicht so wenige Reformationshistorikerinnen und -historiker fremdeln mit dem Jubiläumshype, der Lutherdekade oder dem Reformationsjubiläum insgesamt. Die Frage ist: Woran liegt das?
Um den Gründen für dieses Fremdeln auf die Spur zu kommen, ist es hilfreich, das Reformationsjubiläum zuerst als Musterfall für das schwierige Verhältnis von Wissenschaft und deren öffentlicher Vermittlung zu begreifen. Es ist leicht, sich über die Auswüchse der Lutherdekade lustig zu machen: So sind diverse Luther-Raps und -songs bei YouTube zu sehen; es erscheinen Ratgeberliteratur und kitschige Bücher mit Lutherzitaten; Schulklassen werden aus aller Welt nach Deutschland geholt, um danach als „Lutherbotschafter“ in ihre Länder zurückzukehren. In diesem Sinne ist das Reformationsjubiläum mit seinen vielfältigen Veranstaltungen nur Beispiel für eine Tendenz zur „Eventisierung“ von Geschichte und verweist auf die weithin ungeklärte Haltung, die die akademische Geschichtswissenschaft zum Phänomen der public history einnimmt. Dies gilt selbst dann, wenn Geschichtswissenschaft auch nur in semi-akademische Kontexte vermittelt werden soll: Akademische Historiker neigen dazu, nicht nur in Historienfilmen, Dokudramas, Reenactments (der Nachstellung historischer Ereignisse), Geschichtscomics (geschweige denn Geschichts-Raps), sondern selbst in historischen Ausstellungen oder Podiumsdiskussionen die Gefahr der Verflachung, Verfälschung, Emotionalisierung, Personalisierung historischer Prozesse zu sehen. Gerade die Luther-Zentriertheit der Lutherdekade ist für eine historische Forschung, die sich seit Jahrzehnten bemüht, die sozialen, politischen und kulturellen Umbrüche um 1500 zu beschreiben, ohne in die Falle einer Geschichte großer Männer zu tappen, ein Problem. Diese Gefahr kann aus Sicht der historischen Forschung bestenfalls durch eine gewisse Steigerung des öffentlichen Interesses für historische Themen wettgemacht werden, das mutmaßlich auch der Forschung zugutekommen wird. Ist es schlicht akademische Eitelkeit, die Abneigung gegen das Populäre, die Reformationsforscher mit 2017 fremdeln lässt? Nein: Auch Museums- oder Fernsehleute hegen oft Ressentiments gegenüber „zu akademischen“ Ansätzen, die in ihrer Komplexität kaum vermittelbar erscheinen. Es ist also auf beiden Seiten, auf Seiten der Wissenschaft wie auf Seiten der „Popularisierer“, eine gewisse Borniertheit festzustellen, die nicht mit Eitelkeit, sondern mit jeweils ganz unterschiedlichen Zielsetzungen zu tun hat, die nicht einfach zur Deckung zu bringen sind.