„Glut des utopischen Denkens abgekühlt“
Philosoph Andreas Urs Sommer über Utopien in der Geschichtsphilosophie
Über den Wandel des Utopie-Verständnisses und seine geschichtsphilosophischen Transformationen von der Frühneuzeit bis heute hat der Philosoph Prof. Dr. Andreas Urs Sommer in der Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“ des Exzellenzclusters gesprochen. „Das heutige Dynamisierungspotential des Utopischen scheint erschöpft und die Lust am Nirgendort versiegt. Und doch führen die Wege des utopischen Denkens keineswegs zwangsläufig ins Nirgendwo, in die Weglosigkeit“, sagte der Wissenschaftler aus Freiburg. In seinem Vortrag stellte er „Wegalternativen zur klassischen Utopie“ vor. Er legte dar, wie sich Utopie-Konzepte von ihren frühneuzeitlichen Anfängen seit Thomas Morus‘ Utopia (1516) über das Zeitalter der Aufklärung bis in die Moderne verändert haben. Der Vortrag trug den Titel „Utopische Geschichtsphilosophie – geschichtsphilosophische Utopik“.
Prof. Sommer beleuchtete zunächst die Struktur klassischer utopischer Theoriebildung in den „Idealstaatsschilderungen“ der Frühneuzeit. Diese hätten einen „garstigen Graben zwischen der realen, verdorbenen Welt und der idealen, utopischen Welt“ aufgezeigt. „Das Genre der Utopie unterscheidet sich dabei von anderen Formen politisch-philosophischer Schriftstellerei wesentlich dadurch, dass es das jeweils Dargestellte mit einem fiktionalisierenden ‚Als-ob‘ einklammert“, so der Philosoph. Durch diesen „Modus der Fiktion“ sei „eine völlige Neuordnung des politischen Raumes jenseits der Zwänge der jeweils realen Gesellschaften“ möglich geworden. Neben Morus‘ Utopia stellte der Forscher auch Tommaso Campanellas Civitas Solis (Sonnenstadt, 1602) und Francis Bacons Nova Atlantis (Das neue Atlantis, 1627) als bedeutende utopische Frühwerke vor.
In den Zukunftsentwürfen der Aufklärungszeit, die der Forscher im zweiten Schritt darlegte, sei es dann zu einer „Kristallisation des Utopischen“ gekommen, so Prof. Sommer. „Hier konkretisiert sich das Utopische durch den geschichtsphilosophischen Einfluss realpolitisch und hört auf, bloß ein Gegenstand der Fiktion zu sein.“ Als Beispiel für diesen Prozess zog er den Zukunftsroman L’an deux mille quatre cent quarante (Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume, 1771) des französischen Aufklärers Louis-Sébastien Mercier heran. Dessen Werk entrückte die im Frankreich der Zukunft angesiedelte Utopie nicht mehr an einen fernen Ort und stellte zugleich deutliche Bezüge zu den gesellschaftlich-politischen Missständen unter dem Ancien Régime des 18. Jahrhunderts her, wie der Wissenschaftler darlegte.
In der Gegenwart, die Prof. Sommer im dritten Vortragsteil beleuchtete, sei eine „entpolitisierte Utopie“ übrig geblieben, die nur noch wenig mit ihrer realitätskritischen Urform gemeinsam habe. So werde der Begriff heute für unerreichbare „Luftschlösser“ oder auch für Versprechen (bio)technologischer Wissenschaftsdisziplinen zu einer zukünftigen „Vergottung des Menschen“ genutzt und umgedeutet. Als Beispiele nannte er eine durch Genetik bis zur Unsterblichkeit verlängerte Lebensspanne oder „Allwissenheit“ durch ins Gehirn implantierte Computer-Chips. In der Realpolitik der vergangenen Jahrzehnte hingegen sei die „Glut des utopischen Denkens“ sichtlich abgekühlt. „Kein Parteistratege, der auf Stimmenfang geht, wird in den westlichen Sättigungsgesellschaften den Geist der Utopie beschwören“, so der Philosoph.
Prof. Sommer fragte schließlich nach dem anhaltenden Potential des Utopischen jenseits geschichtsphilosophischer und wissenschaftlich-technischer Denkzwänge. „Vielleicht hat das Utopische ja immer noch philosophisches Potential, und zwar in verunsichernder Absicht, um den Denk- und Gefühlshaushalt der Gegenwart zu dynamisieren“, sagte der Wissenschaftler. So sei die „Verunsicherungskompetenz“, die zum Denken in Alternativen anleite, eine große Kompetenz der Philosophie. „Dazu kann sie sich auch der Utopie bedienen.“ Prof. Sommer ist seit 2011 Professor für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
„Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“
Die Ringvorlesung, die das Habilitandenkolleg des Forschungsverbunds organisiert, widmet sich der Geschichte apokalyptischen und utopischen Denkens von der Antike bis heute und untersucht, wie religiöse und politische Elemente in Zukunftsvisionen verwoben sind. In der Ringvorlesung kommen Vertreter verschiedener Fächer zu Wort: aus der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie, Archäologie, Ägyptologie und Musikwissenschaft.
Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Der nächste Vortrag findet im neuen Jahr statt. Am 6. Januar 2015 spricht der Historiker Dr. Toni Morant vom Exzellenzcluster zum Thema „‚Die großen Tage kommen‘: Zum utopischen Staats- und Frauenbild der spanischen Faschistinnen“. (han/vvm)
Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“
Wintersemester 2014/2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster