"Bildgewaltig, aber nicht visionär"
Hildegard-von-Bingen-Expertin über Margarethe von Trottas Film "Vision"
Margarethe von Trottas neuer Spielfilm „Vision“ über Hildegard von Bingen ist nach Einschätzung der Hildegard-Forscherin Prof. Dr. Christel Meier-Staubach „bildgewaltig, aber nicht visionär“. Für ein breites Publikum sei er möglicherweise „ein bisschen langweilig“, so die Philologin vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Es komme zur kurz, was die mittelalterliche Nonne als ihren eigentlichen Auftrag verstanden habe. „Wie andere Zeitgenossen sah sie die Krise ihrer Gegenwart als Vorzeichen des Weltendes und wollte zur Umkehr aufrufen“, so Meier-Staubach am Montag im Interview mit dem Zentrum für Wissenschaftskommunikation des Clusters nach einer Vorabpräsentation des Films. Er kommt am 24. September in die Kinos.
Positiv sei zu bewerten, dass der Film nah an der historischen Wirklichkeit sei, sagte die Wissenschaftlerin. Margarethe von Trotta vermeide ein esoterisch verklärtes Bild der 1098 geborenen Hildegard. Die Visionen der Nonne setze sie „oft nur andeutungsweise ins Bild“. Nur die Selbstkasteiungen stelle der Film am Anfang überzogen dar.
Prof. Dr. Meier-Staubach forscht seit fast 40 Jahren über Hildegard von
Bingen.Derzeit untersucht die Professorin für Lateinische Philologie
des Mittelalters und der Neuzeit die fast 400 Briefe, die Hildegard an
Menschen in ganz Europaschrieb, darunter Päpste, Kaiser, Könige und
Königinnen. Die Expertin steht für weitere Interviews zur Verfügung.
Interview
Frau Professorin Meier-Staubach, zur Präsentation von „Vision“ wurden im Kino „Hildegards Müsli-Schnitten“ mit „typischen Gewürzen“ wie Galgant und Bertram verteilt. Ist das nach Ihrem Geschmack?
Dieser ganze Gesundheitskram hat wenig mit der historischen Hildegard zu tun und im besten Fall einen Placeboeffekt. Im schlimmsten Fall ist er gefährlich, wenn etwa Schwerkranke mit Halbedelsteinen nach Methoden Hildegards geheilt werden sollen. Hildegards Medizin beruht auch auf Erfahrungen, aber sie ist einfach mittelalterliche Medizin wie die anderer Autoren auch.
Fördert der Film „Vision“ ein esoterisch-verklärtes Bild von Hildegard?
Nein, meine Befürchtungen haben sich nicht bestätigt. Margarethe von Trotta zeigt Hildegard als eine Frau, die auch Schwächen hatte. Und ihre Visionen sind angenehm zurückhaltend, oft nur andeutungsweise ins Bild gesetzt. Im Abspann werden wissenschaftliche Berater für Theologie und Latein aufgeführt, aber nicht für Geschichte. Beruht der Film trotzdem auf historischen Fakten?
Im Detail ist natürlich nicht alles stimmig, und einige Charaktere im Film sind historisch nicht verbürgt. Aber man merkt, dass die Macher sich sehr um Wirklichkeitsnähe bemüht haben. Die Drehorte sind gut gewählt, die Musik könnte damals tatsächlich so geklungen haben, viele Dialoge beruhen auf Schriften Hildegards.
Hat Hildegard denn tatsächlich mit ihren Nonnen Singspiele aufgeführt, mit freiem, blumenbekränztem Haar und in weißen Gewändern?
Das war in damaliger Zeit unerhört, aber es stimmt. Äbtissin Tengwich, die auch im Film auftaucht, hörte von den Vorführungen und ermahnte Hildegard deswegen.
Was fasziniert Sie persönlich an Hildegard?
Sie war eine unglaublich mutige Frau, die für viele andere zum Vorbild wurde. Außerdem hatte sie ungewöhnlich viele Talente. Sie kannte sich mit Heilkräutern und Musik ebenso aus wie mit Theologie. Sie war wissensdurstig und las auch frühe Übersetzungen aus dem Arabischen.
Sie brachte doch alle Voraussetzungen mit, um als große Gelehrte berühmt zu werden. Stattdessen wurde sie zur Visionärin. Wieso?
Die Rolle des Gelehrten war Männern vorbehalten, da hatte Hildegard keine Chance. Nur wenn sie sich als Prophetin unmittelbar auf die Offenbarung Gottes berief, konnte sie ihre eigenen Ideen verbreiten. Man hätte es einer Nonne nie erlaubt, für ihren Ruhm oder den ihrer Auftraggeber zu schreiben. Paradoxerweise wurde Hildegard dann aber gerade als Visionärin berühmt.
Woher hatte Hildegard ihr Wissen?
Das ist schwer zu sagen. Als Visionärin zitierte sie nur aus der Bibel wörtlich. Ihre anderen, oft ungewöhnlichen Quellen verfremdete sie. Doch die moderne Wissenschaft kommt ihr langsam auf die Schliche: Hildegard stand klar in den Traditionen ihrer Zeit, die sie aber sehr eigenständig weiterentwickelte.
Der Film deutet an, Hildegard habe ihre Visionen genutzt, um Interessen durchzusetzen. War sie berechnend und dachte sich ihre Visionen aus?
Wenn Hildegard von „Visionen“ spricht, kann das Vieles bedeuten. Auch die Autoren von Grammatiken führten damals ihr Werk auf göttliche Eingebung zurück. Die Bilder in Hildegards Büchern standen ihr sicher nicht plötzlich vollständig vor Augen, an ihren Büchern schrieb sie jeweils fünf bis zehn Jahre. Sie ging in ihrer Rolle als Seherin auf; es ist heute schwer, den Menschen dahinter zu sehen. Wir können nur spekulieren, was sie wirklich gedacht und
gefühlt hat.
Aber ihre Schülerin Richardis scheint sie dem Film nach sehr geliebt zu
haben, schließlich wehrte sie sich heftig gegen deren Weggang.
Es ist tatsächlich verwunderlich, dass sich Hildegard wegen Richardis mit vielen ihrer engsten Verbündeten anlegte. Vielleicht brauchte sie die junge Nonne mit ihren Lateinkenntnissen als Mitarbeiterin, vielleicht hatten die beiden auch eine innige Mutter-Tochter-Beziehung. Ich bin aber heilfroh, dass Margarethe von Trotta das nicht zu einer erotischen Liebe unter Frauen aufbauscht. Dafür gibt es keine Belege.
Alles in Allem ein gelungener Film? Prophezeien Sie der „Vision“ viele
Zuschauer?
Im Gegensatz zu Hildegard bin ich keine Prophetin, warten wir es ab. Die Endzeiterwartungen und Selbstkasteiungen am Anfang sind überzogen dargestellt. Der Film bietet einen bunten Bilderbogen aus dem Leben Hildegards, seinem Titel „Vision“ wird er jedoch nicht ganz gerecht. Für mich als
Hildegard-Forscherin waren die 111 Filmminuten aufregend. Aber es kommt zu kurz, was Hildegard als ihren eigentlichen Auftrag verstand: Wie andere Zeitgenossen sah sie die Krise ihrer Gegenwart als Vorzeichen des Weltendes und wollte zur Umkehr aufrufen. Deshalb wurde sie zur Visionärin, die sich mutig mit den Mächtigen anlegte. Das hätte man noch spannender erzählen können, ohne die Fakten zu verbiegen. Der Film ist bildgewaltig, aber nicht visionär und für ein breites Publikum möglicherweise ein bisschen langweilig. (arn)