Assoziiertes Projekt Biologie

Bearbeitung der Sachantinomie in der biologiedidaktischen Lehrer*innenbildung – Wie nehmen Lehramtsstudierende den Umgang mit heterogenen Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht wahr?

Theoretischer Hintergrund
Der professionelle Umgang mit den Vorstellungen der Schüler*innen ist ein zentrales Kriterium konstruktivistischen Biologieunterrichts (Riemeier, 2007, 69-70) und lässt sich bildungspolitisch umfassend legitimieren (KMK, 2014, 2016). Wie das Spannungsfeld zwischen heterogenen Schülervorstellungen und fachlicher Norm bearbeitet werden kann, ist zum einen Gegenstand biologiedidaktischer Kontroverse (Hammann & Asshoff, 2014; Kattmann, Duit, Gropengießer & Komorek, 1997) und zum anderen eine unterrichtspraktische Herausforderung für (angehende) Lehrpersonen. In Hinblick auf die Lehrer*innenprofessionalisierung lässt sich diese fachdidaktische Fragestellung weitergehend auf den Umgang von Lehrpersonen mit der Sachantinomie beziehen (Helsper, 2016a). So wird in strukturtheoretischen Ansätzen von Lehrerprofessionalität davon ausgegangen, dass Lehrer*innen in ihrem Handeln mit professionsspezifischen Antinomien konfrontiert sind und der professionelle Umgang mit diesen ein zentrales Merkmal von Professionalität darstellt (Helsper, 2016b).
Eine zentrale Annahme in Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung ist, dass ein professionelles Handeln im Unterricht nur möglich erscheint, wenn (angehende) Lehrpersonen bewusst diejenigen Ereignisse im Unterricht erkennen und interpretieren, die besonders für ein effektives Lernen relevant sind (Sherin, 2007). Angesichts der Komplexität im Unterricht (Asbrand & Martens 2018) und aus der Perspektive wissenssoziologischer Ansätze (Mannheim, 1980; Polanyi, 1985) sind es auch die impliziten Wissensbestände, die die Wahrnehmung der Sachantinomie hinsichtlich des Verhältnisses von fachlicher Norm und Schülervorstellungen im Unterricht beeinflusst.

Zielsetzungen
Die Studie geht der Frage nach, wie Lehramtsstudent*innen der Biologie den Umgang mit Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht wahrnehmen. Ein Beitrag der Studie für die Praxis der Lehrer*innenbildung soll darin bestehen, zu den rekonstruierten habituellen Strukturen passende Lehr-Lern-Angebote im Sinne einer Reflexion der eigenen habituellen Strukturen (Helsper, 2016b; Schlömerkemper, 2006b) forschungsbasiert zu entwickeln. Das Reflektieren der konstruierten Videovignetten und der eigenen Wahrnehmungen zielt auf ein vertieftes Verständnis von Lehr-Lern-Prozessen im Biologieunterricht und auf eine Professionalisierung der Unterrichtswahrnehmung hinsichtlich des Umgang mit Schülervorstellungen auch im Sinne eines „antinomischen Blicks“ (Schlömerkemper, 2006, 281) ab.

Methode
Zur Datenerhebung werden Gruppendiskussionen durchgeführt (Bohnsack, 2010a), wobei eine Videovignette als Stimulus eingesetzt wird. Dieser Stimulus erscheint valide, da die Situativität, Authentizität und Kontextualität unterrichtlicher Realität bis zu einem gewissen Grade dargestellt werden kann (Oser, Heinzer & Salzmann, 2010, 5). Er ist gegenstandsangemessen, da sich der Prozess der Unterrichtswahrnehmung gerade in der Analyse von Un-terrichtssituationen erforschen lässt und eine situierte und damit handlungsnahe Erhebung der Unterrichtswahrnehmung möglich ist.
Die Datenauswertung basiert auf der Annahme, dass das handlungsleitende Wissen der Student*innen bei der Unterrichtswahrnehmung auch implizit vorliegt und anhand von Transkripten und Audioaufnahmen der Gruppendiskussionen rekonstruiert werden kann. Die Datenauswertung erfolgt mithilfe der dokumentarischen Methode, da diese einen methodisch kontrollierten und wissenssoziologisch fundierten Zugriff auf das implizite Wissen (Orientierungsrahmen) ermöglicht (Bohnsack, 2010b).

Literatur
Asbrand, B. & Martens, M. (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Bohnsack, R. (Hrsg.) (2010a). Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis. Opladen: Budrich.
Bohnsack, R. (2010b). Gruppendiskussionsverfahren und dokumentarische Methode. In Friebertshäuser, B. (Hrsg.), Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 205-218). Weinheim: Juventa-Verl.
Hammann, M. & Asshoff, R. (2014). Schülervorstellungen im Biologieunterricht. Ursachen für Lernschwierigkeiten. Seelze: Klett Kallmeyer.
Helsper, W. (2016a). Antinomien und Paradoxien im professionellen Handeln. In Dick, M., Marotzki, W. & Mieg, H.A. (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung (S. 50-61). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Helsper, W. (2016b). Lehrerprofessionalität – der strukturtheoretische Ansatz. In Rothland, M. (Hrsg.), Beruf LehrerLehrerin. Ein Studienbuch (S. 103–127). Stuttgart: UTB.
Kattmann, U., Duit, R., Gropengießer, H. & Komorek, M. (1997). Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion. Ein Rahmen für naturwissenschaftliche Forschung und Entwicklung. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 3(3), 3-18.
KMK (2014). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i. d. F. vom 12.06.2014).
KMK (2016). Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.10.2008 i. d. F. vom 08.09.2016).
Mannheim, K. (1980). Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Oser, F., Heinzer, S. & Salzmann, P. (2010). Die Messung der Qualität von professionellen Kompetenzprofilen von Lehrpersonen mit Hilfe der Einschätzung von Filmvignetten. Chancen und Grenzen des advokatorischen Ansatzes. Unterrichtswissenschaft, 38(1), 5-28.
Polanyi, M. (1985). Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Riemeier, T. (2007). Moderater Konstruktivismus. In Krüger, D. & Vogt, H. (Hrsg.), Theorien in der biologiedidaktischen Forschung. Ein Handbuch für Lehramtsstudenten und Doktoranden (S. 69-79). Berlin Heidelberg: Springer-Verlag.
Schlömerkemper, J. (2006). Die Kompetenz des antinomischen Blicks. In Plöger, W. (Hrsg.), Was müssen Lehrerinnen und Lehrer können? [Beiträge zur Kompetenzorientierung in der Lehrerbildung] (S. 281-308). Paderborn: Schöningh.
Sherin, M.G. (2007). The development of teachers´ professional vision in video clubs. In Goldman, R. (Hrsg.), Video research in the learning sciences (S. 383-395). Mahwah N.J.: Erlbaum.

Promotionsvorhaben

Jens Steinwachs: "Bearbeitung der Sachantinomie in der biologiedidaktischen Lehrer*innenbildung – Wie nehmen Lehramtsstudierende den Umgang mit heterogenen Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht wahr?" -laufend-

Betreuer: JProf. Dr. Helge Gresch und Prof. Dr. Marcus Hammann