Deutungshoheit über Texte – Recht und Literatur im Streit um gerichtliche Zensur
In der deutschen und europäischen Rechtspraxis sind gerichtliche Auseinandersetzungen über Werke der Literatur allgegenwärtig. So ebbt die Diskussion über das teils als „Zensur“ apostrophierte Verbot der Verbreitung des Romans Esra auch nach der 2007 ergangenen einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ab. Der Verlag Droemer Knaur musste sich unlängst noch vom OLG Düsseldorf belehren lassen, dass der Buchtitel Die schönsten Wanderwege der Wanderhure offenbar ironisch gemeint und daher von der Kunstfreiheit geschützt sei. Zuletzt hat der französische Politiker D. Strauss-Kahn, vorerst erfolgreich, eine Klage gegen das Buch Ballade de Rikers Island von R. Jauffret erhoben, da er durch diese literarische Verarbeitung der gegen ihn erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe seine Ehre verletzt sieht.
Aus der Perspektive der Grundrechtsdogmatik handelt es sich hier um eine Kollisionslage zwischen der Kunstfreiheit des Autors (Art. 5 Abs. 3 GG) einerseits und den Persönlichkeitsrechten, im Extremfall der Menschenwürde desjenigen, der sich im Roman entstellt sieht, andererseits (Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 1 Abs. 1 GG in direkter Anwendung). Aus der Meta-Perspektive dieses Teilprojekts liegt hingegen ein Konflikt von Recht und Literatur vor: Werke der Literatur werden (unfreiwillig) zum Gegenstand des Rechts, und diese Vergegenständlichung wird nun ihrerseits als Übergriff in den Rechtskreis des betroffenen Literaten oder der Literatur schlechthin wahrgenommen und beklagt: Zahlreiche Stimmen aus der Literatur- wie aus der Rechtswissenschaft sprechen entweder literarischen Texten generell die Fähigkeit ab, Persönlichkeitsrechte zu verletzen, oder fordern zumindest eine Art „Leseanweisung“ für die erkennenden Richter*innen, die im Zweifel zum identischen Ergebnis (nämlich dem „Freispruch“ für die Literatur) führen soll. Derartige Versuche, eine „richtige“, oder präziser: literaturadäquate Deutung literarischer Texte zu gewährleisten, zielen letztlich auf die Implantation literaturwissenschaftlichen Sachverstands in den gerichtlichen Rechtsfindungsprozess.
Die anhaltende Debatte über eine solche angemessene richterliche Lesart literarischer Werke lässt sich vor diesem Hintergrund als Streit zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft um die Deutungshoheit über Texte der fiktionalen Literatur interpretieren. Nimmt man diesen (externen) Standpunkt ein, wird so-gleich klar, warum die Debatte auch mehrere Jahre und mehrere Monographien nach Esra noch cum grano salis auf einem Niveau des gegenseitigen Vorwurfs der Naivität verharrt: Literaturwissenschaftler*innen und literaturaffine Vertreter*innen der Rechtswissenschaften erklären die obwaltende juristische Deutung von Texten ‚unterkomplex‘, und umgekehrt halten namentlich Rechtspraktiker*innen der „Gegenseite“ ihnen Blindheit bezüglich Konsequenzen vor, wenn z.B. eine literarische Schilderung als Wiedergabe eines tatsächlichen sexuellen Übergriffs gelesen wird.
In dieser Situation will das Teilprojekt ausdrücklich keinen weiteren grundrechtsdogmatischen Vermittlungsvorschlag im Sinne der überkommenen Dichotomie von Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsschutz erarbeiten, sondern im Wege einer vergleichenden Diskursanalyse beschreiben, wie Rechts- und Literaturwissenschaft in diesem Streit um die Deutungshoheit agieren, wie sie Positionen generieren sowie Irritationen der jeweils anderen „Seite“ verarbeiten. Welche Erkenntnisse der Literaturwissenschaft werden zur Materie des Recht (und umgekehrt?), und welche Selektionskriterien werden dabei angewandt? Dabei wird auch die Frage nach distinkten „Fachkulturen“ und der Sicht auf die jeweils andere Disziplin zu stellen sein. Das Projekt geht somit von einer konkreten grundrechtsdogmatischen Fragestellung aus, analysiert aber in primär rechtssoziologischer sowie rechtstheoretischer Perspektive, wie beide Disziplinen Antworten auf diese Frage generieren.