Das Recht der Erfahrungsseelenkunde. Der Pitaval als Milieu- und Prozessliteratur zwischen 1730 und 1840
Bekanntlich stellt die von Gayot de Pitaval im Jahre 1734 begründete und während einem Jahrzehnt fortgesetzte Sammlung von Rechtsfällen den geradezu paradigmatischen Typus belletristisch aufbereiteter Prozessliteratur dar. Das Teilprojekt setzt sich zum Ziel, die Tradition der sogenannten Pitaval-Literatur auf Tat-Erklärungsmuster hin zu untersuchen. Insbesondere werden die Wechselbeziehungen zwischen einer auf innerer Disposition beruhenden Erklärung der jeweiligen Motive in der erzählenden Literatur und den rechts- und straftheoretischen Debatten analysiert; dem Eindringen einer eigentlichen psychologischen Semiotik in die Rechtspraxis und -theorie nachgegangen; und schließlich die Transformation rhetorischer Topoi der Personendarstellung in eine psychologische (oder psychologisierende) Empirie erklärt. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den ‚peinlichen‘ Rechtsfällen. Sie eignen sich für eine solche Untersuchung weit eher als die privat- oder zivilrechtlichen Prozesse, die im Übrigen zunehmend aus den Pitaval-Sammlungen verdrängt werden. Das Projekt gehört also ganz eindeutig in den Projektbereich A (Materialität), werden doch Recht, Verfahren und Gerichtsbarkeit als das eigentliche Material von Erzählungen behandelt. Hierbei ist jedoch nicht bloß der Einsatz genuin literarischer Mittel zu beobachten, sondern auch die Rückwirkung dieser Dar-stellungen auf die Entwicklung der Romanliteratur einerseits sowie auf die zeitgenössischen Debatten mit Blick auf Kodifikation und Modernisierung des Strafrechts andererseits. Auch hier wirken Einzelfälle, mehr noch deren Sammlung auf die Rechtsfortschreibung ein.
Dass das Korpus, das mit dem quasi-generischen Namen ‚Pitaval‘ bezeichnet wird, eine wichtige Etappe in der Entwicklungsgeschichte der Kriminalliteratur darstellt, gilt als unstrittig. Zahlreich sind denn auch die Untersuchungen, die dem Einfluss der ursprünglichen Causes célèbres auf einzelne Werke der europäischen und nordamerikanischen Literatur gewidmet sind. Hierbei wird jedoch der Spezifik dieser Literatur geringere Aufmerksamkeit zuteil, vorzüglich der Nähe zur richterlichen und anwaltlichen Praxis sowie der historisch variablen Schnittstelle an der Grenze von Fakt und Fiktion. Die Gerichtsfälle sind das Material, das integriert und – in Wechselwirkung mit der Programmatik des anthropologischen Romans – transformiert wird. Die Faktizität des Materials ist hierbei von größter Bedeutung, insbesondere mit Blick auf die zentrale Rolle des Inferierens auf Seiten der Lesenden. Inferenzen sind zwar zur Bildung von Kohärenz – sowohl bei der Komposition als auch bei der Rezeption eines Textes – per definitionem unerlässlich, fungieren in ‚kriminalistischen‘ Narrativen jedoch ‚über-prominent‘. So hat die neuere literatur- und rechtswissenschaftliche Forschung sich der Tendenz zur Überkohärenzbildung in Gerichtsverfahren und Verhören angenommen. In neuester Zeit hat sich zudem eine neue Perspektive innerhalb der Narratologie eröffnet, die unter der Bezeichnung ‚psychonarratology‘ auf Erkenntnisse der Philosophy of mind zurückgreift, um das Wechselspiel zwischen Erzähler und Leser genauer zu analysieren und nach der lebensweltlichen Basis des Schließens in Erzähltexten zu fragen.
Die dramatische Kraft der einzelnen Pitaval-Erzählungen verdankt sich hauptsächlich der Kollision von Rechts- und Gerechtigkeitsbegriff. Gerade in einer Zeit, die als Schwelle bei der Herausbildung eines neuen Rechtsverständnisses im Zuge der Kodifikation und der Durchsetzung des Rechtspositivismus als zentral erachtet wird, muss auf dem Hintergrund der rechtshistorischen Entwicklung nach Konflikten zwischen Ethik und Recht gefragt werden. Die Literatur, um die es hier geht, entwickelt ein sehr feines Sensorium für die mitunter traumatischen Erfahrungen, denen sich Täter und Opfer bei der Institutionalisierung eines neu geschaffenen Polizeiapparats bei gleichzeitigem Abbau ständischer Privilegien vor Gericht ausgesetzt sehen. Es sind nicht zuletzt Vorstellungen eines religiös geprägten Schuldbegriffs sowie des ständischen Ehrbegriffs, die hier in den Hintergrund treten, und durch eine objektivierte Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit und der Tatmotive ersetzt werden.
Kein Gegenstand als der Pitaval könnte sich als Ausgangspunkt also besser eignen, um den Triumph einer Literatur zur Beförderung der Menschenkenntnis um 1800 mit der Herausbildung eines der erfolgreichsten Genres der Romanliteratur, des Krimis, als unmittelbaren Transfer dokumentarischer Quellen und heftig umstrittener rechtlicher Normdebatten in ein Genre zu belegen, das zwar unentwegt behauptet, der Rechtsaufklärung und moralischen Besserung zu dienen, dennoch in zunehmenden Maße den Unterhaltungscharakter des Verbrechens in den Vordergrund rückt. Spannung und Dramatik dürfte diese Literatur nicht zuletzt den bezeichneten Konflikten verdanken.