Mali: umstrittene Bedeutungen von „kollektivem Interesse“
Von Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz
Am 30. November druckten einige malische Zeitungen vorab die Rede, mit der sich N’Ba Daou, der Präsident der nach dem Militärputsch im August 2020 gebildeten Übergangsregierung in Mali über das nationale Fernsehen „das malische Volk“ auffordern wollte, sich an eine neu verhängte nächtliche Ausgangsperre und weitere begleitende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie zu halten. Nur wenige Stunden später zirkulierten die ersten Protestparolen in einer über Facebook und andere sozialen Medien vermittelten, transnationalen Kommunikationssphäre, so etwa die folgende: „N’ba Daou, die Malier sagen Dir, dass Armut unter der Jugend Malis herrscht. Diese ziehen daher ein Covid-19 dem Mit- leeren- Taschen-leben- 2020 vor. Daher halten wir uns nicht an die Vorgabe des Ausgangsverbots“. Wie am Tonfall und der kombinierten Verwendung der Sprachen Französisch und Bamanakan (der lingua franca Südmalis) erkennbar, trugen diese Nachrichten die spezifische Signatur arbeitsloserer unverheirateter Männer mit Schulausbildung. Gleichzeitig spiegelte der vielen Nachrichten gemeinsame Verweis darauf, dass Ausgangsperre und andere Einschränkungen der Mobilität die ökonomische Prekarität verschärfe, einen weit geteilten Widerstand gegen die Maßnahmen wider-- dies nicht aus Protest gegen die Einschränkung persönlicher Rechte, wie dies in Europa und Nordamerika aktuell zu beobachten ist, sondern aus Sorge um die Möglichkeit, das tägliche Überleben zu sichern. In Reaktion auf diesen Protest annullierte Präsident N’Daou -- zumindest vorüber gehend-- seine Fernsehansprache, was darauf hinzuweisen scheint, wie stark der Präsident und seine Übergangsregierung sich von einer breiteren Akzeptanz abhängig sehen, und für wie prekär sie ihre eigene Machtposition halten.
In Mali stellen weitverbreiteter Widerstand und Strategien der Vermeidung und des Ausweichens vor staatlicher Kontrolle keinesfalls neue Verhaltensweisen dar. Schon vor dem Sturz des früheren Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita im August 2020 wurde Widerstand gegen staatliche epidemiologische Maßnahmen durch einen Diskurs zu mangelnder politischer Legitimität gerechtfertigt. Auffällig an vielen aktuell zirkulierenden Protestnachrichten ist allerdings, dass sie verstärkt die offizielle Rhetorik eines „kollektiven“ Wohls und Interesses hinterfragen, und stattdessen Covid-19 als partikulares Problem von „Reichen“ und „Ungläubigen“ bezeichnen, womit sie auf Klimaanlagen, geschlossene Büros und andere Orte des Wohlstands als wichtige Übertragungszonen anspielen. Nicht der Kontrast zwischen Individualität und Kollektivität, zwischen individuellen Rechten und einem kollektiven Interesse an nationaler Gesundheit, steht hier also aktuell im Mittelpunkt des Widerstandsdiskurses, sondern eine Umdeutung von kollektivem Interesse. Anstelle einer Gleichsetzung von „allgemeinem Wohlergehen“ und „Gesundheit“ fordern die oben zitierten Kritiker, dass nationales Wohlergehen neu definiert wird, als von allen geteilte Möglichkeit, das Leben unter würdigen materiellen Bedingungen zu gestalten.