Die Leere als neuer Raum der Vergemeinschaftung und Vergegenwärtigung: Urbi et Orbi am 27. März 2020
Von Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems
Die Bilder der in Corona-Zeiten menschenleeren städtischen Räume werden unsere Erinnerungen an diese Krise prägen. Die durch den Shutdown bedingte Verlassenheit von sonst stark belebten Orten nahezu weltweit ließ plötzlich Dinge entdecken, die zu Zeiten vor der Pandemie unsichtbar waren: Majestätische Quallen in den nun kristallklaren Kanälen Venedigs, den monumentalen marmornen Fußboden im Petersdom in Rom, in dessen fünf Schiffen bis zu 60.000 Gläubige Platz finden, oder die kreisrunde Pflasterung um die Kaaba in Mekka, die im Innenhof der Al-Haram-Moschee in diesem Jahr die das Heiligtum umkreisenden Menschenmassen nur erahnen ließ: Es können sich dort bis zu 820.000 Menschen versammeln.
Doch die Leere schuf auch neue Räume der Vergemeinschaftung und Vergegenwärtigung. Am 27. März 2020 – auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie in Italien – erfolgte eine „außerordentliche“ Spendung des Segens Urbi et Orbi auf dem Petersplatz durch Papst Franziskus, ein ungewöhnliches Ereignis, das zuletzt wohl 1950 stattfand; damals verband Papst Pius XII. die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel mit dem feierlichen Segen. Der Anlass der diesjährigen außerordentlichen Spendung war jedoch kein innerkirchliches Ereignis, sondern die über alle religiösen Grenzen hinweg die gesamte Welt bedrohende Corona-Pandemie. Üblicherweise spendet der Papst den Segen erhöht vom zentralen Balkon des Petersdoms, doch für den 27. März wurde auf dem Petersplatz in einigem Abstand vor der Kirchenfassade ein bodennaher, bühnenartiger Aufbau gewählt, überfangen von einem modernen Baldachin in Form eines schmalen, mit LEDs versehenen Dachs: In dieser einem Pop-Konzert gleichenden Rauminszenierung gewann der bei Einbruch der Abenddämmerung erteilte Segen besondere Eindrücklichkeit, auch durch die Vereinzelung der auf dem Podest mittig positionierten Figur des weißgewandeten Papstes. Sein Blick stieß auf den menschenleeren, im Regen glitzernden Platz, auf dem sich sonst Zehntausende Menschen versammeln. Diese eigentümlich konzentrierte Zeremonie im leeren Raum übertrugen wie immer Radio- und Fernsehanstalten aus aller Welt live. Seit über 50 Jahren ist es per kirchlicher Regelung möglich, den Segen auch elektronisch zu empfangen: seit 1967 über das Radio, seit 1985 per Fernsehen, seit 1995 auch im Internet. Doch ein Segen ohne physisch präsentes Publikum hat es bisher noch nie gegeben. Das Paradox mag darin bestehen, dass sich der Effekt der Vergemeinschaftung über religiöse Grenzen hinweg gerade durch den leeren Platz in besonderer Weise einstellte, denn das Verstörende des verlassenen Raumes erlebte man in diesen Tagen weltweit, sei es am Times Square in New York mit den in die Leere blinkenden Lichtern, am Alexanderplatz in Berlin, dessen betongraue Eintönigkeit durch die Straßenbahnschienen durchfurcht wird, oder am Prinzipalmarkt in Münster, dem „Wohnzimmer“ der Stadt, in dessen Leere kurzzeitig ein Sofa platziert wurde.
In diesen leeren Raum auf dem Petersplatz hinein wirkten am 27. März 2020 freilich auch die mit dem Segen verbundenen katholischen Symbolhandlungen, etwa die eucharistische Anbetung, wenn der Papst eine Monstranz mit der Hostie, für katholische Gläubige der Leib Christi, in die Höhe hält, deren Anblick einen Ablass gewährt. Seitens des Vatikans wurde betont, dass die Symbolhandlung weder als Beschwörungsgeste noch als magische Gefahrenabwehr verstanden werde, doch die kleine Auswahl der ebenfalls gezeigten Bildwerke bestätigten diese Beteuerung kaum. Rechts und links des Papstes, etwas zurückversetzt in den Schutz der Fassade, wurden der knapp überlebensgroße hölzerne Kruzifix aus der römischen Kirche San Marcello und die als „Salus Populi Romani“ bekannte Tafel aus Santa Maria Maggiore vor jeweils einer monumentalen Säule platziert: Beide Werke waren jahrhundertelang schwere Geschütze im Kampf gegen Epidemien. Das im 15. Jahrhundert geschaffene Pestkreuz von San Marcello links vom Papst gilt als wundertätiges Bildwerk, nachdem es 1519 einen Kirchenbrand unbeschadet überstanden hatte. Bei beginnender Pestepidemie 1522 in Rom wurde es in Prozessionen durch die Straßen getragen, nach nur 16 Tagen soll die Epidemie abgeflaut sein. Die rechts vom Papst aufgestellte Tafel „Salus populi Romani“ ist die bedeutendste Marienikone Roms, deren Entstehung sogar in der Spätantike vermutet wird und die laut Legende als ein Werk des Evangelisten Lukas gilt. „Salus populi“ – „Heil des Volkes“ ist die Anrufung der Jungfrau Maria um Schutz. In der Vita Gregors des Großen, des Papstes und Kirchenvaters (um 540-604), wird berichtet, er habe bei einer großen Pestepidemie im Jahr 590 dieses von Lukas gefertigte Marienbild durch Rom tragen lassen und dadurch erfolgreich der Seuche Einhalt geboten.
Jahrhundertelang inszenierten Päpste, Kirchenfürsten, Könige und Kaiser wundertätige Bildwerke, um eigene politisch-religiöse Interessen zu untermauern. Für die „Salus populi Romani“ wurde 1613, auf dem Höhepunkt der Gegenreformation, von Papst Paul V. in der Cappella Paolina in der bedeutendsten Marienkirche Roms ein überaus prächtiger goldglänzender Raum und Rahmen geschaffen. Diesem aufwändigen Rahmen wurde die von Papst Franziskus besonders verehrte Ikone entnommen, um sie am 27. März – immerhin in einem Glaskasten – gleichsam nackt der Welt zu präsentieren, während sich auf dem (zum Entsetzen von Restauratoren) vollkommen ungeschützten Gekreuzigten aus San Marcello die Regentropfen sammelten. Schließlich wird im Zentrum der weißgewandete Papst von dem barock-goldenen Spektakel hinterfangen, das sich im Kircheninneren, sichtbar durch das geöffnete Mittelportal, im gedämpften Licht entfaltet: Dort ist Berninis in der zentralen Apsis von den Kirchenvätern getragene Cathedra Petri schemenhaft zu erkennen, überfangen von in Gold getauchten Engeln auf Wolken, die sich um die in der Mitte von Licht umgebene Taube des Heiligen Geistes versammeln. Der Jesuiten-Papst hat sich im medialen Zeitalter vor einem Millionenpublikum überaus effektvoll in die Geschichte der päpstlichen Inszenierungen von Votivbildern eingereiht.