Gospel und amerikanische Identität
Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert über Gospelmusik zwischen Religion und Politik
Über die religiösen Wurzeln und die politische Bedeutung des Gospels hat der Münchener Musikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Rathert in der Ringvorlesung „Musik und Religion“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ in Münster gesprochen. „Der Gospelgesang gilt als besonders identitätsstiftend für das Selbstverständnis der amerikanischen Kultur“, erläuterte Prof. Rathert, der am Institut für Musikwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht. „Nicht nur amerikanische Hörer, sondern auch Europäer empfanden den Gospel als Rückkehr zu einer ursprünglichen Einheit von Musik und Glauben.“ Er zeichnete in seinem Vortrag auch nach, wie der Rassenkonflikt, die sogenannte „color line“, zwischen weißen und schwarzen Amerikanern die Entwicklung der Gospelmusik prägte. Der Vortrag trug den Titel „‚Swing low, sweet chariot?‘ Anmerkungen zu Erscheinung und Wandel des Gospels in der amerikanischen Musikgeschichte“.
Prof. Rathert nahm Entstehung und Entwicklung des Gospels in den Blick. „Die englischen Puritaner und protestantischen Religionsgemeinschaften, die die neuen Kolonien in Nordamerika im 17. Jahrhundert hauptsächlich besiedelten, sahen Musik recht skeptisch, anders als die lutherische und die katholische Tradition in Europa. Sie befürchteten, die Musik könne vom Wort Gottes ablenken“, erläuterte der Wissenschaftler. Als Gemeindegesang habe sich nur allmählich eine Art Wechselgesang entwickelt: Einen vom Priester gesungenen Vers habe die Gemeinde nachgesungen und ihn dabei musikalisch verziert, „lining out“ genannt. „Die afrikanischen Sklaven konnten an diesen Gottesdiensten – wenn auch räumlich separiert – teilnehmen. Sie übernahmen das ‚lining out‘, das sie ‚raising a hymn‘ nannten, in einer musikalisch ganz anderen Form der Mehrstimmigkeit, die man als Vorstufe der späteren Spirituals ansehen kann.“
„Schwarze“ und „weiße“ Musik
Der Musikwissenschaftler führte aus, es sei bis heute umstritten, wie groß der Einfluss der afro-amerikanischen Musik auf die amerikanische Musikkultur gewesen sei. „Gerade für die Spirituals, die wir in der Regel ohne Zögern als ‚schwarze‘ Musik identifizieren, behauptete etwa der Musikethnologe George Pullen einen Primat der ‚weißen‘ Musik.“ Dieser habe in seinem Buch „White and Negroe Spirituals“ 1943 nachzuweisen versucht, dass sämtliche Spirituals ihren Ursprung in europäischen Volks- und Kirchenliedern hätten. „Erst in den 1980er Jahren hat die Forschung die Fragwürdigkeit dieses Konstrukts aufgedeckt und die vielfach westafrikanischen Wurzeln der Spirituals nachgewiesen, zu denen noch andere Einflüsse hinzukommen, etwa aus der Karibik“, so Prof. Rathert. Der afro-amerikanische Musiker und Bürgerrechtler Harry Belafonte betone schließlich „verständlicherweise die Selbständigkeit der afrikanischen Musik als Form des Protests gegen die Unterdrückung“.
Prof. Rathert stellte neben weiteren Tonbeispielen den Spiritual „Swing low, sweet chariot“ und das afro-amerikanische Gesangensemble „Fisk Jubilee Singers” vor, das dieses Stück zwischen 1871 und 1878 in den USA und in Europa bekannt machte. „Die Fisk Jubilee Singers verkörperten ein Amerika, das mithilfe des Spirituals und kurze Zeit später des Jazz zu einer musikalischen Weltmacht aufstieg.“ Die sechs Frauen und vier Männer des Ensembles studierten Rathert zufolge an der 1866 Fisk University in Nashville, Tennessee, der ersten Bildungseinrichtung für befreite Schwarze in den USA. „Ihre Abschiedstournee führte die Jubilee Singers nach Europa und auch durch das deutsche Kaiserreich. Ein Höhepunkt war das Konzert vor der Familie des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Friedrich III.“ Der Musikwissenschaftler resümierte, dass sich „die unablässige kulturelle und musikalische Transformation des Gospels jenseits ihrer religiösen Ursprünge und politischen Funktionen eine eigene Wirklichkeit geschaffen hat“, die sich bis die heutigen Erscheinungsformen von Hip Hop und Rap weiterverfolgen lässt. (ill/dak)