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Richard Sennett kritisiert Atmosphäre der "existenziellen Bedrohung"

US-Soziologe Richard Sennett lockt große Zuhörerzahl in den münsterschen Erbdrostenhof
(v.l.) Prof. Dr. Cornelia Blasberg (Sprecherin der Graduiertenschule "Practices of Literature"); Wendela-Beate Vilhjalmsson (Bürgermeisterin der Stadt Münster); Prof. Dr. Richard Sennett; Prof. Dr. Cornelia Denz (Prorektorin der WWU Münster); Hans Rath (Präsident der Handwerkskammer Münster); Dietmar Dath
(v.l.) Prof. Dr. Cornelia Blasberg (Sprecherin der Graduiertenschule "Practices of Literature"); Wendela-Beate Vilhjalmsson (Bürgermeisterin der Stadt Münster); Prof. Dr. Richard Sennett; Prof. Dr. Cornelia Denz (Prorektorin der WWU Münster); Hans Rath (Präsident der Handwerkskammer Münster); Dietmar Dath
© GSPoL - Niclas Naumann

Der münstersche Erbdrostenhof war bis auf den letzten Platz besetzt, als der bekannte US-Soziologe Richard Sennett gestern (15. Mai) mit seinem Vortrag über den "Sinn der Arbeit" die erste münstersche Poetik-Dozentur "Münster Lectures - Literatur und Theorie im Dialog" eröffnete. "Die Arbeit ist der Mittelpunkt für das Leben jedes Menschen. Wer in seiner Arbeit zufrieden ist, der ist zufrieden. Zufrieden kann ein Mensch nur in freier Arbeit sein", zitierte Wendela-Beate Vilhjalmsson, Bürgermeisterin der Stadt Münster, Paul Ernst (1866-1933) in ihren Grußworten. Was damals galt, sei heute noch genauso gültig. Ihre Freude über die neue Poetik-Dozentur als Forum für einen interdisziplinären Dialog mit der Öffentlichkeit brachte auch Prof. Dr. Cornelia Denz, Prorektorin der Universität Münster (WWU), zum Ausdruck: "Den sprichwörtlichen Elfenbeinturm gibt es nicht mehr."

200 Zuhörer lauschten dem Vortrag Richard Sennetts über die Probleme, die der moderne Kapitalismus für das Zusammenwirken der Menschen mit sich bringt. Mit jemandem produktiv zusammen zu arbeiten, so Sennett, sei schwierig und erfordere vor allem Zeit, bis alle Beteiligten sich aneinander gewöhnt haben und Prozesse eingespielt seien. Zeit, die in heutigen Kurzzeitbeschäftigungen oft nicht gegeben ist. Das Ergebnis seien Einzelkämpfernaturen und eine Aushöhlung des Begriffs "Teamwork", der zunehmend eine kurzzeitige Zusammenstellung eines Pools aus verschiedenen Mitarbeitern denn eine abgestimmte Nutzung der Kompetenzen eines jeden Teammitglieds meine. Anstellungsverhältnisse lediglich auf die Laufzeit eines bestimmten Projekts zu begrenzen, heiße, Menschen immer wieder auf den Anfang kooperativer Annäherungsprozesse zurückzuwerfen und Lernprozesse zu unterbinden.

"Das kapitalistische Kurzzeit-Regime raubt den Menschen die Fähigkeit, miteinander zu  kooperieren und sich in ihrer Umwelt aufgehoben zu fühlen", betonte Richard Sennett. Sicherheit sei in den letzten Jahren sukzessive zugunsten einer Atmosphäre der "existenziellen Bedrohung" abgebaut worden, so dass der Mensch selbst in seiner Freizeit Angst um seinen Arbeitsplatz und seinen Stellenwert im "Team" habe. Die Sprache in Unternehmen vergegenwärtigt laut Sennett das grundsätzliche Missverständnis, dem die Ideologie der führenden Business Schools folge: "Klare Ansagen werden wie ein Mantra eingefordert. Dabei sorgt gerade eine eindeutige und autoritäre Sprache für eine Entmündigung des Mitarbeiters." Statt Angestellte entsprechend der von Unternehmen propagierten Selbstverbesserungs-Slogans zu fördern, würden sie konsequent disqualifiziert und durch unsichere Arbeitsverhältnisse ihrer Würde beraubt.

Doch wie Kontinuität schaffen, wenn es schlicht zu wenig Stellen gibt? "Wir werden nie wieder Verhältnisse wie in den 80er Jahren mit Vollbeschäftigung haben", prophezeite Sennett. Europa sei jedoch wohlhabend genug, um jeden Menschen arbeiten zu lassen. Der Mensch brauche eine produktive Tätigkeit, auch in Teilzeit. Nötig sei ein Umdenken der Politik: Der "starke Staat" müsse das Grundeinkommen und eine gesetzliche Regelung von Arbeitszeit und Vertragsdauer durchsetzen, argumentiert Sennett.

Der zweite Teil der Poetik-Dozentur findet heute (Mittwoch, 16. Mai 2012) ab 18 Uhr im Festsaal des Historischen Rathauses (Stadtweinhaus) der Stadt Münster, Prinzipalmarkt 8/9 statt. Den Vortrag hält der deutsche Journalist und Schriftsteller Dietmar Dath. Moderiert wird der Abend von Prof. Dr. Moritz Baßler vom Germanistischen Institut der WWU Münster. Der Eintritt ist frei.

Die Poetik-Dozentur "Münster Lectures - Literatur und Theorie im Dialog" ist eine gemeinsame Veranstaltung von Stadt und Universität Münster. Organisiert wird sie von der Graduiertenschule "Practices of Literature" des Fachbereichs Philologie, mit Unterstützung der Kulturstiftung der Sparkasse Münsterland Ost, des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und der Handwerkskammer Münster.

Graduiertenschule "Practices of Literature"