Übersetzungen zeichnen den Weg des Wissens nach
Wenn sich Historiker mit Übersetzungen beschäftigen, geht es ihnen nicht in erster Linie um Sprache. Andere Aspekte stehen im Vordergrund, beispielsweise die Rezeptionsgeschichte. "Wir schauen, welche Akteure involviert waren", erläutert Juniorprofessor Dr. Philip Bockholt. "Wer hat diesen Text übersetzt, wer hat diese Handschrift erworben, wer sie gelesen?" Das ließe sich etwa anhand von Besitzvermerken nachvollziehen. "Wenn jemand ein Exemplar einer bestimmten Handschrift auch noch drei Jahrhunderte nach ihrer Entstehung im Schrank hat, dann sagt das viel über das darin vermittelte Wissen aus", ist der Forscher überzeugt. Der 38-Jährige hat seit Anfang des Wintersemesters eine Juniorprofessur für die Geschichte des turko-persischen Raumes am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft inne. Darüber hinaus leitet er eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu arabisch-persisch-türkischen Übersetzungsprozessen im östlichen Mittelmeerraum.
Wissen könne alles Mögliche sein, betont der Islamhistoriker. "Das geht über naturwissenschaftliche Erkenntnisse weit hinaus." Seine Quellen sind in arabischer, persischer oder türkischer Sprache verfasst. Sein eigenes Wissen erwarb Philip Bockholt im Studium der Islamwissenschaft, Geschichte und Theologie in Bochum, Münster, Berlin, Jerusalem, Istanbul, Kairo und Teheran. An der Freien Universität Berlin promovierte er 2018 zu islamischer Weltgeschichtsschreibung um 1500 am Beispiel der persischen Chronik "Habib as-siyar". Dieses in den 1520er-Jahren verfasste Werk zählt zu den am häufigsten kopierten Geschichtswerken der islamischen Geistesgeschichte, Hunderte von Abschriften zirkulierten in der gesamten östlichen islamischen Welt. Neben Besitz- und Stiftungsstempeln untersuchte Philip Bockholt auch anhand von Lesevermerken und Illustrationen die Leserschaft der Chronik vom 16. bis ins beginnende 20. Jahrhundert, also die Wege dieser Abschriften durch die Hände unterschiedlicher Besitzer und Bibliotheken. "Das Werk gehörte zu einem geografisch weit verbreiteten Kanon", schildert der Historiker. Da habe er sich gedacht, es müsse doch zwischendurch inhaltliche Anpassungen gegeben haben. Tatsächlich ergab die Analyse der Abschriften eine solche ideologische Varianz: "Bereits der Autor versah sein Werk für verschiedene Herrscher nach ihrer jeweiligen konfessionellen Präferenz mit einem schiitischen beziehungsweise sunnitischen Schwerpunkt."
Philip Bockholt bereichert seine neue Wirkungsstätte um die Expertise zu einem großen Kulturraum, der aus diesem Blickwinkel bisher nicht im Mittelpunkt stand. "Der indische Subkontinent oder Zentralasien beispielsweise sind in der Islamwissenschaft, auch an anderen Instituten, bisher kaum vertreten", sagt der Historiker. "Die verschiedenen Quellensprachen und Regionen sind institutionell häufig getrennt verortet." Die WWU habe gezielt einen Experten für die Gebiete der östlichen islamischen Welt gesucht. Philip Bockholt wechselte dafür vom Orientalischen Institut der Universität Leipzig nach Münster. Hier untersuche er nun einen "gewaltigen Raum mit vielen spannenden Phänomenen", darunter auch die großen islamischen Bauten, etwa das Taj Mahal in Indien oder die große Moschee im iranischen Esfahan.
Bei seinen Forschungsaufenthalten in mehr als 70 Institutionen in Europa, im Nahen und Mittleren Osten, in Zentral- und Südasien sowie in Nordamerika lernte Philip Bockholt viele verschiedene Wissenschaftskulturen kennen. Zwar sei es mitunter knifflig und manchmal auch von persönlichen Kontakten abhängig, an die Quellen zu gelangen, berichtet der Geschichtsforscher. "Aber mein Forschungsgegenstand liegt wohl eher im Windschatten der politischen Aufmerksamkeit. Die persische Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts erschien beispielsweise Staatsvertretern der Region wohl nicht interessant genug, um Einfluss zu nehmen. Daher konnte ich bislang noch immer in Ruhe arbeiten und erhielt Zugang zu den Bibliotheken und Archiven." Sein nächster Auslandsaufenthalt führt ihn im März erstmals nach Japan. "Ich darf meine Arbeit in Tokio und Kyoto vorstellen – dort gibt es sehr gute Islamwissenschaftler." Der neuberufene Juniorprofessor hofft zudem, in diesem Zeitraum die legendäre japanische Kirschblüte zu sichten.
Die Buchstadt Leipzig mit ihrem Flair aus der Gründerzeit werde er zwar vermissen, sagt Philip Bockholt. "In Münster freue ich mich aber auch auf eine lebenswerte Stadt mit vielen Angeboten im Bereich Natur und Kultur, ebenso auf die Verbundforschung und den interdisziplinären Austausch." Er habe bereits Gespräche mit Kollegen vom Institut für Altorientalistik und vorderasiatische Archäologie geführt. Weitere Fächer und Institute möchte er noch besuchen. Stadt und Uni kennt er indes schon gut: 2009 studierte der Historiker ein Jahr lang in Münster. Von seiner Wohnung in Gievenbeck aus fuhr er damals gerne zum Hochschulsport. Vor allem Standard- und Lateintänze interessieren ihn, nach Möglichkeit möchte er nun wieder Tanzkurse besuchen.
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 16. November 2022.
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Prof. Dr. Philip Bockholt auf den Seiten des Instituts für Arabistik und Islamwissenschaft