Von der Freiheit des Ãœbersetzens
Spanisch will Münster Ende November so gar nicht wirken. Statt Palmen, Sandstrand und blauem Himmel blickt man aus dem Dachgeschoss des Sprachenzentrums am Bispinghof auf kahle Baumkronen und rote Dächer. Und doch weht für vier Stunden ein Hauch Spanisch über die Flure, denn in einem Seminar geht es um die Übersetzung literarischer Texte aus dem Spanischen ins Deutsche. Das birgt vielerlei Stolperfallen, denn die Sprache variiert mitunter erheblich – je nach Land, Region oder Bevölkerungsschicht, in der sie gesprochen wird. "Sprache ist ein Teil kultureller Identität, die in literarischen Texten ihren Ausdruck findet. Feine sprachliche Unterschiede erzeugen und vermitteln diese kulturelle Identität, die es bei Übersetzungen zu berücksichtigen gilt", erläutert Seminarleiterin Dr. Friederike von Criegern, die in diesem Semester als Gastdozentin an der WWU unterrichtet.
In ihrer Lehrveranstaltung geht es der selbstständigen Literaturübersetzerin vor allem darum, dieser sogenannten Verortung – also der Bestimmung der kulturellen Herkunft des Textes durch sprachliche Merkmale – in Übersetzungen gerecht zu werden. Im Seminar fragt Friederike von Criegern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder nach dem historischen Kontext, in dem der jeweilige Text entstanden ist, und erläutert die Lebensumstände der Autorinnen und Autoren. So erschließt sich vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkriegs (1936 – 1939) alsbald, warum der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda den Stil seiner Gedichte abrupt änderte – vom reinen und dadurch weltentrückten Poeten hin zum politischen Dichter.
Angesichts der verschiedenen Gattungen, Perioden, Autoren und Sprachen wird klar, dass Übersetzen ein weites Feld ist. Friederike von Criegern scheint das anzuspornen: "Letztlich sind Literaturwissenschaft, -übersetzen und -unterrichten allesamt Vermittlungsprozesse, für die unterschiedliche Instrumente und Zugänge herangezogen werden", sagt sie. Mehrmals betont sie den Aspekt von Freiheit in ihrer Arbeit. "Manchmal muss man sich entfernen, um dem Text gerecht zu werden und ,treu‘ zu bleiben." Diese Freiheit möchte sie auch den Studierenden vermitteln. "Literaturübersetzen stellt andere Anforderungen als eine zur Überprüfung der Fremdsprachkompetenz eingesetzte Übersetzungsaufgabe. Ich gehe nicht davon aus, dass der Kurs den Studierenden gleich eine bessere Note in der Sprachpraxis oder im Übersetzungskurs beschert." Literaturübersetzer müssten sehr genaue Leser sein, wichtig sei das literaturwissenschaftliche Instrumentarium, etwa zur Analyse von Erzähler oder Stilmitteln, das an den Ausgangstext angelegt werde. Auch gehe es darum, die interkulturellen Kompetenzen der Studierenden zu fördern und sie sich sprachlich entfalten zu lassen. "Manchmal lassen wir uns einfach darauf ein, mit der Literatur zu arbeiten, kreativ zu werden und mit Sprache zu spielen – und haben Freude daran. Den Mut zu haben, den Kommilitonen ein eigenes Gedicht vorzulesen, sich gemeinsam über einen schönen Satz zu freuen: Das zu erleben, macht einfach Spaß."
Von der Arbeit an der WWU profitieren aber nicht nur die Studierenden, sondern auch sie selbst, betont Friederike von Criegern. "Ich finde es sehr schön, dass ich meine Arbeit am Schreibtisch, wo ich über einem Text brüte und lese, denke, schreibe, mit der Arbeit mit Studierenden verbinden kann. Das ist abwechslungsreich und bereichernd." Sie könne die Studierenden während ihrer Gastdozentur begleiten und selbst dazulernen, indem sie "mit jungen, wachen, lernwilligen Menschen" arbeitet, die ihre eigene geistige Freiheit aufrechterhalten und befeuern.
Friederike von Criegerns Seminar findet alle zwei Wochen für jeweils vier Stunden statt. Genug Zeit, um sowohl Fragen der Übersetzungstheorie als auch intensiv der Praxis nachzugehen. Dafür bringt die Literaturübersetzerin Fragestellungen mit, die sie mit konkreten literarischen Werken verbindet. Da Übersetzen viel Zeit braucht, bekommen die Studierenden die Texte mit den Problemstellungen als Hausaufgabe gestellt. "Im Unterricht beugen wir uns gemeinsam über einzelne Stellen, diskutieren sie und formulieren neu", beschreibt Friederike von Criegern den geplanten Seminarablauf. "Ein Kurs hat zum Glück aber immer eine eigene Dynamik. Ich versuche, auf die veränderten Interessen zu reagieren und so neue Texte und Themen zu berücksichtigen."
Zum Ende des Seminars im Bispinghof geht es ans Eingemachte. Die Studierenden sollen ein Gedicht des chilenischen Dichters Floridor Perez übersetzen. Obwohl das Gedicht "Carta de Natacha 2" nur sieben Zeilen lang ist, beschäftigt es die Studierenden fast eine Stunde. Ein Knackpunkt: Das lyrische Ich spricht seine Natascha jeweils am Ende einer Zeile mit "cariño" (etwa Liebling) und einmal mit "carajo" (ein mehrdeutiger Kraftausdruck) an.
Doch eine einfache Übersetzung wird der sprachlichen Nähe der beiden spanischen Begriffe nicht gerecht. Das Beispiel zeigt als eines von vielen, was Friederike von Criegern vermitteln möchte: Die wörtliche Übersetzung ist selten die Lösung.
Zukunftsprogramm "Neustart Kultur"
Der Deutsche Übersetzerfonds hat zum laufenden Wintersemester 46 literarische Übersetzer als Gastdozenten an deutsche Hochschulen entsendet. Mit Studierenden diskutieren sie in Lehrveranstaltungen über die vielfältigen Fragen der Übersetzungskultur, analysieren Texte aller Gattungen und erproben die Übersetzungspraxis. Ermöglicht wird das durch die Förderung aus dem Rettungs- und Zukunftsprogramm "Neustart Kultur" der Bundesregierung. An der Universität Münster unterrichten derzeit die beiden Literaturübersetzerinnen Bettina Bach und Dr. Friederike von Criegern.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 15. Dezember 2021.