Für ein chancengerechtes Studium
In den Hörsaal gehen, der Professorin zuhören, die wichtigsten Informationen mitschreiben: Für die meisten Studierenden ist das selbstverständlich und kein größeres Problem. Nicht so für Pascal Geweniger. Als Kind wurde sein Augenlicht immer schlechter, im Alter von 14 Jahren erblindete er vollständig. Sein Abitur machte er auf einer Schule für Menschen mit Sehbehinderung in Marburg. Seit dem Wintersemester studiert er BWL an der WWU. "Hier ist nicht alles blindengerecht. Genau diese Herausforderung habe ich gesucht", erzählt der 20-Jährige.
Der Start ins erste Semester verlief etwas holprig. "Mir war klar, dass nicht alles super wird. Schließlich bin ich der erste blinde Studierende in meinem Fachbereich", sagt er. Selbst für Erstsemester ohne Beeinträchtigung ist der Studienbeginn oft eine kleine Herausforderung – für Pascal Geweniger gab es ungleich mehr Hürden. Wo kann ich einen Nachteilsausgleich beantragen? Wie komme ich an eine persönliche Assistenz? Gibt es barrierefreie Lernmaterialien? "Alle waren sehr nett und aufgeschlossen", erinnert er sich. Das habe ihn in seiner Entscheidung, an der WWU zu studieren, bestärkt. "Für beide Seiten ist es Learning by Doing. Und es klappt immer besser."
Besonders geholfen hat ihm sein Kommilitone Jan Lukas Plattes – beide lernten sich kurz nach Semesterbeginn kennen. Jan Lukas Plattes ist einer von aktuell elf studentischen Inklusionstutorinnen und -tutoren, die seit dem Wintersemester beeinträchtigte Studierende an der WWU unterstützen, im Idealfall bereits vor Vorlesungsbeginn und in der Studieneingangsphase. Das Projekt wurde gemeinsam von der Koordinierungsstelle Studium mit Beeinträchtigung und der Zentralen Studienberatung ins Leben gerufen. "In meinem letzten Bachelor-Semester wollte ich mich gerne ehrenamtlich engagieren", sagt Jan Lukas Plattes über seine Motivation. Als BWL-Student kennt sich der 23-Jährige am Fachbereich aus und konnte Pascal Geweniger deshalb viele Fragen zum Studienablauf beantworten und ihm die richtigen Kontakte vermitteln.
Rund elf Prozent aller Studierenden an deutschen Hochschulen haben eine Beeinträchtigung, wovon nur wenige für Außenstehende auf Anhieb sichtbar sind. Rund 52 Prozent von ihnen sind psychisch beeinträchtigt, 20 Prozent haben chronische Erkrankungen. Die Bandbreite ist groß. Für die Beeinträchtigten bringt dies oft besondere Herausforderungen bei der Studien- und Prüfungsorganisation mit sich, aber auch das soziale Miteinander kann erschwert werden. Viele wollen keine "Sonderbehandlung". Es ist ihnen unangenehm, über ihre Beeinträchtigung zu reden und Unterstützung anzunehmen. "Als Inklusionstutoren ist es unsere Aufgabe, die Dozenten und andere Studierende für das Thema zu sensibilisieren", sagt Studentin Clara Gutjahr (24), die sich am Fachbereich 08 Geschichte/Philosophie engagiert. "Barrierefreies Studieren bedeutet schließlich nicht nur, dass es neben Treppen auch eine Rampe für Rollstuhlfahrer gibt."
Laura Schmitz-Justen, Inklusionstutorin am Fachbereich 09 Philologie, weiß aus eigener Erfahrung um die Schwierigkeiten. Sie trägt ein Hörgerät und braucht in der Vorlesung möglichst visuelle Unterstützung wie Powerpoint-Folien. Leise Sprache und starke Umgebungsgeräusche machen es ihr fast unmöglich, alle Inhalte mitzubekommen. "Viele Dozenten haben kaum Vorwissen über Beeinträchtigungen. Es wäre toll, wenn das Thema direkt bei der Seminarplanung bedacht würde", sagt die 26-Jährige. Sie hat deshalb mit einigen Kommilitoninnen und Kommilitonen einen Arbeitskreis gegründet und in der Fachschaft, in der Orientierungswoche und bei den Lehrenden auf die Arbeit der Inklusionstutorinnen und- tutoren hingewiesen. "Es ist unsere Kreativität gefragt. Dort, wo wir Lücken sehen, können wir aktiv werden", ergänzt Clara Gutjahr, die beispielsweise Ideen für die barrierefreie Gestaltung der Webseite ihres Fachbereichs entwickelt hat.
Unterstützt werden sie vor allem von Tobias Grunwald von der Koordinierungsstelle Studium mit Beeinträchtigung. "An der WWU gibt es bereits ein gutes Beratungsangebot. Die Hemmschwelle, sich an andere Studierende zu wenden, ist jedoch viel geringer", erklärt er. In einer eintägigen Schulung werden die Inklusionstutorinnen und- tutoren auf ihre Arbeit vorbereitet. Zusätzlich gibt es Reflexionstage, an denen sie von ihren Erfahrungen berichten und ihre Projekte und Ideen vorstellen. Am Ende des Semesters erhalten alle ein Ehrenamtszertifikat. Lehramtsstudierende können sich die Tätigkeit sogar als Berufsfeldpraktikum anerkennen lassen. "Es wäre toll, wenn es in jedem Fachbereich und in jedem größeren Studiengang Inklusionstutoren gäbe. Schließlich gibt es an der WWU rund 5.000 Studierende mit Beeinträchtigung", sagt Tobias Grunwald.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2020.