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"Das Aufeinandertreffen von Traditionen und Fortschrittsglaube ist faszinierend"

Germanistin Prof. Dr. Susanne Günthner über ihre Erfahrungen mit dem chinesischen Hochschulsystem
Prof. Dr. Susanne Günthner
Prof. Dr. Susanne Günthner
© Uni MS - Julia Harth

Prof. Dr. Susanne Günthner vom Germanistischen Institut ist eine China-Kennerin. Sie lebte mehrere Jahre in China und leitet seit 2017 eine Germanistische Institutspartnerschaft mit der Xi‘an International Studies University. Im Interview mit der Unizeitung "wissen|leben" spricht sie über die Fortschrittsgläubigkeit in China, das Interesse der Chinesen an Deutschland und die Unterschiede zwischen den beiden Hochschulsystemen.

China fördert vor allem seine Elite-Universitäten. Finden Sie dennoch gute Arbeitsbedingungen in Xi‘an vor?

Die Arbeitsbedingungen sind gut. Anders als die Universitäten in Shanghai und Peking, die mit Auslandskontakten überhäuft werden, bemühen sich die Hochschulen in Xi‘an sehr um internationale Kontakte. Die technische Ausstattung ist teilweise besser als bei uns, alle Kolleginnen und Kollegen sind engagiert, die Kontakte unter den internationalen Gastdozenten sind extrem gut. Schwierig ist dagegen der Zugang zur Forschungsliteratur, da alle Google-Zugänge gesperrt sind.

Woher rührt das Interesse Chinas an der Germanistik?

China hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein starkes Interesse am wissenschaftlichen Austausch mit Deutschland – damals vor allem in den Ingenieur- und Naturwissenschaften. Das Interesse an der Germanistik basiert unter anderem auf dem positiven Deutschlandbild in China. Viele junge Menschen haben Interesse an der deutschen (Alltags-)Kultur und vor allem den Wunsch, in Deutschland zu arbeiten oder zu studieren. Deutschland ist nach den englischsprachigen Ländern der populärste Studienort – weil deutsche Universitäten einen guten Ruf haben und das Studium kostenfrei ist.

Was sticht beim Vergleich des chinesischen mit dem deutschen Hochschulsystem hervor?

Das chinesische Hochschulsystem ist weitaus verschulter; die Studierenden sind in festen Klassenverbänden organisiert, und die Beziehung zwischen den Studierenden und Dozenten ist sehr hierarchisch. Seit einigen Jahren hat der Einfluss der Kommunistischen Partei im Uni-Alltag stark zugenommen. Es gibt viele politische Schulungen und parteigeleitete inhaltliche Vorgaben – gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wo man eine Rückbesinnung auf die chinesische Kultur forciert.

Würden Sie mit Ihrer langjährigen Erfahrung deutschen Wissenschaftlern die Zusammenarbeit mit chinesischen Hochschulen empfehlen?

Unbedingt, denn man erlebt eine intensive Begegnung mit einem Hochschulsystem, das anders als das unsrige funktioniert. Auch das Aufeinandertreffen von jahrtausendalten Traditionen mit einer nahezu ungebremsten Fortschrittsgläubigkeit ist faszinierend. In den letzten Jahren erlebe ich ein enorm wachsendes Selbstbewusstsein der chinesischen Wissenschaft: Während man vor 35 Jahren noch den Westen imitieren wollte, versucht man heute voller Stolz, den ‚chinesischen Traum‘ auch in der Wissenschaft zu realisieren.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 18. Dezember 2019.

Der Original-Artikel in der wissen|leben
Prof. Dr. Susanne Günthner