Mathematik und medizinische Bildgebung
"Mathematics for a better world" - das ist dieses Jahr das Motto des Internationalen Tags der Mathematik. Ein gutes Beispiel dafür ist der medizinische Fortschritt: Die Mathematik leistet hier wichtige Beiträge, etwa in der medizinischen Bildgebung. Darum geht es auch im nächsten Online-Vortrag der Reihe "Brücken in der Mathematik" am 24. März 2021.
Prof. Dr. Benedikt Wirth, Professor für Mathematische Optimierung, gibt vorab im Interview einen kleinen Einblick in die mathematischen Konzepte, die grundlegend für die medizinische Bildgebung sind, und beschreibt konkrete Forschungsprojekte, an denen er gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Biologie, Medizin und anderen Disziplinen arbeitet.
Benedikt Wirth, ohne bereits zu viel von Ihrem Vortrag vorweg zu nehmen: Welche mathematischen Konzepte und Begriffe waren es, die die medizinische Bildgebung entscheidend vorangebracht haben?
Wenn Technologien der medizinischen Bildgebung wie Computertomographie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Ultraschall genutzt werden, wird dabei sozusagen berechnet, wie der Körper von innen aussieht. Es gibt viele vergleichbare Situationen, bei denen eine gesuchte Größe nicht gemessen werden kann, sondern aus indirekten Messungen berechnet werden muss, typischerweise durch Lösen einer oder mehrerer Gleichungen. Einige dieser Probleme sind sehr alt, zum Beispiel die Bestimmung des Erdradius. Bereits bei solchen einfachen Problemen hilft das grundlegende Verständnis, wann Gleichungen gelöst werden können und wann nicht. Weiter hilft ein statistisches Verständnis, um mit den unvermeidbaren Messfehlern umgehen zu können.
Bei medizinischer und verwandter Bildgebung kommt eine Besonderheit hinzu: Die gesuchte Größe stellt nicht nur eine Zahl oder vielleicht eine Handvoll Zahlen dar, sondern es muss ein ganzes Bild rekonstruiert werden. Hier hilft das Konzept und Verständnis sogenannter kompakter Operatoren - die Messung in der medizinischen Bildgebung kann als ein solcher beschrieben werden. Auf diese Konzepte werde ich im Vortrag näher eingehen.
Welche mathematischen Fortschritte gibt es in diesem Gebiet darüber hinaus?
Ohne effiziente Algorithmen wäre medizinische Bildgebung nicht denkbar - dies umfasst Entdeckungen und Entwicklungen von der schnellen Fourier-Transformation bis zu neueren Verfahren der sogenannten konvexen Optimierung. Die Idee von nicht-glatter Regularisierung, also einer Art Verbesserung der Bildrekonstruktion ohne Konturen zu verwischen, hat ebenfalls deutliche Fortschritte gebracht und ging mit neuen mathematischen Konzepten einher. Im Moment sehen wir, wie Deep Learning und datengetriebene Verfahren immer erfolgreicher zur Unterstützung der Bildrekonstruktion eingesetzt werden - auch hier sind entscheidende Fortschritte zu erwarten.
Was sind aktuelle Problemstellungen aus dem Feld der medizinischen Bildgebung, die Sie zurzeit bearbeiten?
Innerhalb des Sonderforschungsbereichs "inSight" beschäftigen wir uns insbesondere mit Bildgebung von Objekten, die sich bewegen oder einer zeitlichen Veränderung unterliegen. Dies wird in dem Feld immer wichtiger: Zum einen ist man immer mehr an den zeitlichen Verläufen beispielsweise einer Immunzellverteilung interessiert, zum anderen wird es bei der heute möglichen räumlichen und zeitlichen Auflösung der Messungen immer wichtiger, selbst kleine oder schnelle Bewegungen im gemessenen Objekt zu erkennen und zu kompensieren. Bilder statischer Objekte kann man mittlerweile in den meisten Fällen sehr zufriedenstellend rekonstruieren, doch bei Problemen mit Zeitabhängigkeit gibt es noch einiges zu tun.
Und woran forschen Sie genau?
Konkret betrachten wir in zwei Kooperations-Projekten mit der Medizin, der Biologie und der Physik auf der einen Seite klassische medizinische Positronen-Emissions-Tomographie und auf der anderen Seite Mikroskopieverfahren an lebendem Gewebe. Im ersten Projekt ist die langfristige Vision, radioaktiv markierte einzelne Zellen, zum Beispiel Leukozyten oder Tumormetastasezellen, im Patientenkörper verfolgen zu können. Aus mathematischer Sicht erfordert dies die Entwicklung von Bildrekonstruktionsmethoden, die zu jedem Zeitpunkt nur sehr wenige Messungen zur Verfügung haben, die durch gleichzeitige Einbeziehung aller Zeitpunkte jedoch trotzdem eine gute räumliche und zeitliche Auflösung ermöglichen. Wir benutzen hierzu Methoden des sogenannten optimalen Transports und versuchen quantitative und qualitative Aussagen über die Rekonstruktionsqualität zu beweisen.
Im zweiten Projekt ist die Vision, Mikroskopie an einem pulsierenden Blutgefäß oder sogar an zuckenden Muskeln trotz dieser Bewegung durchführen zu können und so zelluläre Vorgänge zum Beispiel der Atherosklerose zu verstehen. Hierzu bedarf es aus mathematischer Sicht möglichst passender mathematischer Modelle, mit denen eine Bewegung effizient beschrieben, vorhergesagt und schließlich korrigiert werden kann. Dazu nutzen wir klassische Konzepte wie Interpolation zwischen gemessenen Datenpunkten in Kombination mit neueren, geometrisch motivierten Sichtweisen auf die Menge aller vorkommenden Bewegungen.
Im TraCAR-Projekt forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Mathematik, der Biologie und der Medizin gemeinsam an Immuntherapien gegen Krebs. Welchen Beitrag kann die Mathematik hier leisten?
Das Projekt untersucht Immuntherapie für solide Tumoren, also Tumoren, die Wucherungen bilden - im Gegensatz zu Blutkrebs, wo die Immuntherapie bereits sehr erfolgreich ist. Dabei sollen körpereigene, genetisch modifizierte Immunzellen den Tumor bekämpfen. Im Prinzip kann die Mathematik hier auf drei Ebenen helfen:
Erstens: In der Bildgebung verbessern neue mathematische Rekonstruktionsmethoden die räumliche und zeitliche Auflösung. Dies ist zunächst für die Auswertung der biomedizinischen Experimente notwendig. In späteren Phasen könnte es auch für die Diagnostik oder die Überwachung des Therapiefortschritts helfen. Man möchte wissen, was mit den Immunzellen passiert, wo sie landen, ob sie aktiv sind.
Zweitens: Die mathematische Modellierung und Untersuchung der erstellten Modelle kann Erkenntnisse liefern, welche Szenarien prinzipiell während einer Immunzelltherapie auftreten können und was in diesen Szenarien passiert. Diese Modelle basieren natürlich auf den zuvor gesammelten Daten und biomedizinischen Erkenntnissen. Damit möchte man grundlegende Fragen beantworten wie zum Beispiel ob der Tumor im Prinzip vollständig ausradiert werden kann oder ob in einem anderen Szenario vielleicht sogar ein gegenteiliger Effekt passieren kann.
Drittens: Basierend auf den mathematischen Modellen kann mit mathematischer Optimierung und numerischer Simulation eine Therapieoptimierung durchgeführt werden. Beispielsweise möchte man für jeden Patienten die Menge und Art der Immunzellen optimieren oder den Zeitpunkt beziehungsweise die Zeitpunkte der Therapie.
Im Moment befinden wir uns noch am Anfang, im ersten Schritt. Auch hier entwickeln und untersuchen wir Verfahren, die zeitliche Bewegung der Immunzellen zu rekonstruieren. Im Gegensatz zum zuvor erwähnten Projekt im Sonderforschungsbereich probieren wir hier andere, eher geometrische Ansätze aus.
Eine Herausforderung bei interdisziplinären Projekten sind sicherlich die unterschiedlichen fachspezifischen Begriffe und Konzepte. Wie läuft es in der Praxis ab: Gibt es erst einmal ein Treffen, bei dem eine gemeinsame "Sprache" gefunden wird?
Interdisziplinäre Projekte starten nicht von jetzt auf gleich - sie basieren auf jahrelanger Interaktion, in der man sich gegenseitig und die Problemstellungen langsam kennenlernt. Zunächst tauscht man sich einfach mit den angrenzenden oder auch etwas entfernteren Wissenschaften aus, zum Beispiel auf persönlicher Ebene an der eigenen Universität. Dies geschieht nicht notwendigerweise mit der Zielsetzung eines gemeinsamen Projekts, sondern mehr aus Interesse - man blickt einfach über seinen Tellerrand hinaus. Manchmal ergeben sich daraus interessante längere Diskussionen bis hin zu gegenseitigem Einzelunterricht; ab und zu werden auch gezielt interdisziplinäre Seminare oder Workshops organisiert, auf denen die Fachleute für alle Disziplinen verständlich vortragen. Im Laufe der Zeit erlernt man ein kleines bisschen der anderen Sprache - genug, um sich in einem interdisziplinären Projekt verständigen zu können. Wird das Projekt konkreter, schaut man sich natürlich auch ein bisschen die Fachliteratur der Projektpartner an, um das Problem in seiner Gänze zu verstehen.
Übrigens interagieren die Disziplinen in einem gemeinsamen Projekt nicht ständig: Es bedarf in der Regel recht wenig Interaktion, wenn der Mathematiker ein paar Monate versucht, die Rekonstruktionseigenschaften seiner Methode zu beweisen, oder wenn der Biomediziner versucht, neue Immunzellen zu erzeugen und ein Versuchsprotokoll zu etablieren. Interaktion wird eher dann wichtig, wenn relevante Zwischenresultate in den einzelnen Disziplinen erreicht sind und man schaut, ob diese für das Gesamtprojekt nutzbar sind oder noch verbessert werden müssen.
Links:
Online-Vortrag "Blick in den Körper: Über das Inverse und medizinische Bildgebung" 24. März 2021, 19:30 Uhr, Livestream