Präsidentschaftswahl in Frankreich
„Demokratie und europäische Integration müssen immer wieder erworben und verteidigt werden“
Am Sonntag (23. April) findet der erste Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl statt, bevor dann am 7. Mai in einer Stichwahl der Präsident oder die Präsidentin gekürt wird. Prof. Wichard Woyke, emeritierter Professor vom Institut für Politikwissenschaft, über ein stark verändertes Parteiensystem, die Chancen des rechtspopulistischen Front National und die Bedeutung der Wahl für Europa und Deutschland.
Die Spitzenkandidaten liegen laut der aktuellen Umfragen sehr nah beieinander. Ist der Ausgang der Wahl also völlig offen?
Woyke: Im Augenblick (Stand 19. April) ist der Wahlausgang tatsächlich offen. Grund ist – trotz der Umfragen, die ja vier Kandidaten im Bereich von 18 bis 24 Prozent sehen – dass 40 Prozent der Wähler noch nicht entschieden haben, wem sie ihre Stimme geben werden. Wir wissen noch nicht, in welche Richtung diese 40 Prozent gehen werden. Oder ob sie überhaupt an der Wahl teilnehmen werden.
Mit Blick auf die vergangene US-Präsidentenwahl, bei der viele doch vom Ergebnis überrascht waren: Wie verlässlich sind die Umfragen?
Ich denke, dass die Umfragen schon verlässlich sind. Das sehen Sie ja auch bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu den deutschen Landtagen, wo die Meinungsforschungsinstitute mit ihren Prognosen doch relativ genau liegen, meistens jedenfalls. Aber wir haben auch gelernt, dass das nicht immer so der Fall sein muss, insbesondere bei Persönlichkeitswahlen, Sie haben schon Trump angesprochen. Insofern ist dem ganzen Unterfangen auch eine gewisse Unsicherheit zuzubilligen.
Unter den Spitzenkandidaten gibt es mit Le Pen und Mélenchon eine Rechtspopulistin und einen Linkspopulisten, die Konservativen spielen keine herausragende Rolle und die Sozialisten sind weit abgeschlagen. Woher kommt das?
Wir haben in Frankreich eine dramatische Veränderung des Parteiensystems. Der Vertreter der Sozialistischen Partei, Benoît Hamon ist vollkommen raus und wird nur mit rund neun Prozent gehandelt. Und auch der Kandidat der konservativen Republikaner, Fillon, liegt mit 18 bis 20 Prozent an dritter oder vierter Stelle. Das heißt, dass die frühere Auseinandersetzung zwischen einem sozialistischen Kandidaten und einem konservativen Kandidaten im zweiten Wahlgang nicht mehr existiert. Nun konkurrieren drei mehr oder weniger populistische Kandidaten. Le Pen, Mélenchon und Macron. Diese französische Wahl hat etwas ganz interessantes hervorgebracht: Nämlich, dass Politik auch sogenannte Windows of Opportunity für manche Personen schafft. Vor drei Monaten hat noch niemand daran gedacht, dass Macron ein ernsthafter Kandidat sein würde. Da aber Herr Fillon Nepotismus betrieben und seine eigenen Verwandten versorgt hat, und ihm das in der Wählerschaft zurecht angekreidet wird, ist auf einmal Herr Macron in dieser besonderen Lage, als die Rettung des bürgerlichen Lagers angesehen zu werden.
Worin liegen die Ursachen für diesen Wandel im Parteiensystem?
Frankreich ist seit Jahrzehnten in einer bedeutsamen Krise. Sowohl politisch, gesellschaftlich, als auch ökonomisch. Politisch sehen wir das besonders daran, dass das Aufkommen des Front National dazu geführt hat, dass die ursprünglichen Aufteilungen in Rechte und Linke obsolet geworden sind. Der Front National existiert seit 45 Jahren und hat immer stärker an Stimmen gewonnen. Das heißt, es muss noch etwas anderes sein als reiner Anti-Islamismus oder auch Anti-EU-Stimmen. Die zweite große gesellschaftliche und ökonomische Krise ist die der Arbeitslosigkeit und der mangelnden Reformen. In den Metropolen boomt es, aber auf dem Land ist es immer schwieriger für Leute, Arbeit zu finden. Ganz besonders problematisch hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit mit ca. 20 bis 25 Prozent, was aber ein Charakteristikum der Fünften Republik seit Jahrzehnten ist. Hinzu kommt, dass sich die französische Gesellschaft sehr stark durch den Terrorismus sich verängstigt sieht und sich in einer Krise befindet über ihre eigene Identität. Beispielsweise wird immer deutlicher, dass von den drei Werten Égalité, Liberté und Fraternité die Égalité nicht so richtig zutrifft, insbesondere für Franzosen mit Migrationshintergrund, die es ganz schwer haben, in die französische Gesellschaft integriert zu werden.
Besteht die Wählerschaft des Front National vor allem aus Menschen, die unter der Wirtschaftskrise Frankreichs leiden, oder – wie bei der deutschen AfD – auch aus sehr gebildeten Menschen?
Aus formal gebildeten Menschen. Auch in Frankreich haben wir das. Wir haben aber bei den Wählern tatsächlich auch eine überproportionale Verteilung der sogenannten Modernisierungsverlierer. Es sind viele Arbeiter direkt übergegangen von der sozialistischen Partei zu dem Front National, weil von diesem eine ganz bestimmte Politik gemacht wird, dem Islam und der Einwanderung ein Stopp entgegengesetzt werden soll, und damit eben auch das Gefühl jener bestärkt werden soll: Die nehmen unsere Arbeitsplätze weg. Obwohl ja diese Arbeiten niemand machen will aus der französischen Gesellschaft.
Die Niederlande haben bereits gewählt, nach Frankreich folgt Deutschland. Welche Auswirkungen hat das Wahlergebnis auf Europa? Was kann das eine oder das andere Wahlergebnis verändern?
In der Tat ist das ist eine höchst bedeutsame Wahl für den europäischen Integrationsprozess. Sollte Marine Le Pen tatsächlich Präsidentin werden, wird es ein starkes Beben in Europa geben und in meinem Verständnis dürfte das das Ende des bisherigen europäischen Integrationsprozesses sein. Es wird ein Re-Nationalisierungsprozess in Europa eintreten, der wieder dazu führen könnte, dass das, was wir überwunden glaubten in Europa in den letzten 70 Jahren, doch nicht überwunden ist. Nämlich dass Nationen innerhalb der europäischen Gemeinschaft gegeneinander Kriege führen. Das ist zwar eine sehr düstere Version, die auch so schnell nicht zutreffen würde, aber 1989 hätte auch keiner gedacht, dass in einem jugoslawischen Staat Bosnier gegen Serben schießen würden.
Also wäre tatsächlich auch eine Rückbildung der EU wieder denkbar? Für die Generation der jetzigen Studenten Mitte zwanzig, die mit der EU aufgewachsen sind, ist dies nur schwer vorstellbar.
Ja, so ist das, aber wir mussten für die EU kämpfen. Wenn Sie nach Großbritannien schauen, dann war das es gerade diese junge Generation, die dazu beigetragen hat, dass es zum Brexit kam. Weil Europa eben für sie selbstverständlich war und sie nicht wählen gegangen sind. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es so weit kommen könnte. Das ist ein Kardinalfehler. Demokratie wie auch europäische Integration müssen immer wieder erworben, müssen erarbeitet werden, und müssen verteidigt werden. Das ist ein langer Prozess. Das dürfte in dem Moment, in dem Frau Le Pen an die Macht kommt, vorbei sein. Sie hat schon angekündigt, dass sie die Prioritäten wieder auf Nationales setzen würde, dass sie die Grenzen dicht machen möchte und der französischen Gesellschaft ein Referendum unterbreiten möchte zum Austritt aus der EU. Und wenn das passiert, dann ist die EU alter Herkunft tot.
Im Hinblick auf die deutsche Bundestagswahl im Herbst: Kann man die französische Präsidentschaftswahl als Wegweiser sehen?
Hinsichtlich der anderen Parteien nicht, aber in Bezug auf den Front National schon. Sollte der Front National große Unterstützung bekommen, also eventuell sogar Le Pen Präsidentin werden, dann hätte das sicher eine mobilisierende Wirkung für die AfD. Das würde aber grundsätzlich an der Regierungsfähigkeit in Deutschland nichts ändern. Mehr als 15 Prozent würden sie auch dann nicht bekommen, anstelle der acht oder neun Prozent, die jetzt in den Umfragen ausgewiesen werden.
Können Sie – nach all den Spekulationen – eine vorsichtige Prognose abgeben, wie die Wahl Ihrer Meinung nach ausgehen wird?
Ich denke schon, dass sich der zweite Wahlgang zwischen Macron und Le Pen abspielen wird und dass dann Macron eindeutig gewinnen wird. Wir werden dann allerdings ein Problem in Frankreich bekommen, so oder so. Obwohl dieses Problem das kleinere ist. Weil Macron keine Partei hinter sich hat, sondern eine Bewegung, En Marche. Im Juni darauf folgen Parlamentswahlen in Frankreich, und dann stellt sich die Frage der Mehrheit im französischen Parlament. Bei 580 Abgeordneten braucht Macron knapp 300 verlässliche Parteigänger, um regieren zu können. Wie wird sich das vollziehen? Das ist vollkommen offen.