Habilitationsprojekt
Die Bedeutsamkeit der Welt. Pantheismus um 1800 und Monismus um 1900
An Goethe und seiner Zeit führt um 1900 kein Weg vorbei. Der schon zu Lebzeiten zum nationalen Denkmal erhobene Autor ist ein zentraler Referenzpunkt in Literatur, Geistes- und Lebenswissenschaften der Jahrhundertwende (vgl. Haas / Steizinger / Weidner 2017; Riedel 2009). Dies betrifft jene jungen Autoren, die weltliterarische Aufmerksamkeit erlangen werden (Hofmannsthal, Rilke, Thomas Mann), genauso wie Philosophen und Naturwissenschaftler unterschiedlicher intellektueller Provenienz (etwa Dilthey, Simmel, Haeckel). Dabei sind es vor allem Goethes Überlegungen zum Pantheismus und das pantheistische Weltbild seiner Zeit, die sich – so argumentiert das Projekt – in den literarischen sowie philosophisch-weltanschaulichen Texten (vgl. Thomé 2003) der Jahrhundertwende bemerkbar machen und dort in ein monistisches Dispositiv eingebettet werden.
Das Projekt fokussiert den Pantheismus um 1800, um die monistischen Tendenzen um 1900 grundlegend neu zu reflektieren. Dies reicht von der Naturbegeisterung im Werther (1774), über den durch Friedrich Heinrich Jacobi angestoßenen Spinoza-Streit der 1780er-Jahre und Goethes gemeinsam mit Johann Gottfried Herder verfolgter Idee einer „,pantheistischen Moderne‘“ (vgl. Kreutzer 2011) bis hin zu den morphologischen Überlegungen des Naturforschers Goethe (vgl. etwa Geulen 2016). Dadurch wird der bisherige Ansatz der Forschung differenziert, der die monistische Moderne insbesondere als ein Folgephänomen der Romantik versteht (vgl. Fick 1993; Erdbeer 2010). Es gilt zu zeigen, dass sich der popularisierte Monismus um 1900 und seine literarische Resonanz bei Autorinnen und Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann (vgl. dazu Schneider 2020), Richard Dehmel, Wilhelm Bölsche, Johannes Schlaf (vgl. Sprengel 1998, Stöckmann 2009) oder Lou Andreas-Salomé von pantheistischen bzw. morphologischen Überlegungen ableiten, die sich nicht auf die romantische Naturphilosophie (Schelling, A. von Humboldt) und den Panpsychismus Gustav Theodor Fechners reduzieren lassen.
Leitend sind zwei Thesen: 1) Die Literatur der Jahrhundertwende ist in einen Säkularisierungsprozess eingebettet, der an die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erinnert. So stellt sich die deutsche Literatur ab dem Sturm und Drang als das Ergebnis von Säkularisierungstendenzen in Folge der Aufklärung bei gleichzeitiger ästhetischer Indienstnahme religiöser Ideen und Termini dar. Die monistische Literatur der Moderne ähnelt diesem Phänomen in struktureller Hinsicht frappierend. Sie ist einerseits eng an die einschneidenden naturwissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts geknüpft (Evolutionsbiologie, Religionskritiken Feuerbachs, Schopenhauers, Nietzsches), speist sich jedoch andererseits aus einem quasi-religiösen Weltbild und Vokabular. Bei dieser Konstellation setzt das Projekt an. Durch die Verschaltung pantheistischer und monistischer Deutungsmuster von Welt um 1800 / 1900 sowie durch ihre Beobachtung, Kommentierung und ästhetische Transformation innerhalb der Literatur befragt das Projekt die literaturwissenschaftliche Säkularisierungsthese (vgl. etwa Schlaffer 2002 sowie Schöne 1958), fundiert diese textanalytisch-literaturgeschichtlich und verknüpft sie mit der sich aufdrängenden Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Weltgestaltung. Dabei lassen sich sowohl die pantheistischen als auch die monistischen Ganzheitsideen als Antworten auf die Ausdifferenzierungsprozesse (vgl. Luhmann 1977, 1993) innerhalb moderner Gesellschaften verstehen.
2) Die zweite These des Projekts geht daraus hervor: Literarische Texte, die pantheistische sowie monistische Weltbilder um 1800 / 1900 reflektieren, evaluieren und transformieren, operieren mit groß dimensionierten Vokabeln wie ,Welt‘, ,Kosmos‘, ,All‘, ,Gott‘, ,Leben‘ und ,Sein‘. In diesem Zug zielen die Texte auf poetische Überstrukturierung, zum Beispiel durch Metaphern und weitere Tropen sowie durch mythische Erzählmuster mit Rekursen auf vorzivilisatorische Urzustände. Die mit diesem Vokabular und seiner literarischen Zurichtung einhergehenden semiotischen Implikationen sind erheblich. Pantheistisch und monistisch grundierte Literatur ist, so meine These, grosso modo durch eine zeichenhafte Struktur geprägt, die Bedeutsamkeit konstruiert. Bedeutsamkeit meint umgangssprachlich etwa ,Tragweite‘, ,Wichtigkeit‘ oder ,Gewichtung‘. In der Literaturwissenschaft hat der Begriff als heuristisches Werkzeug kaum Anwendung gefunden, ein Grund dafür ist sicher die eigentümliche Vagheit, die er transportiert. Genau hier gilt es systematisierende Arbeit zu leisten. Instruktive Impulse kommen von Jochen Hörischs Studie Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien (2009). Hörisch definiert Bedeutsamkeit als ein „fundamentalsemiologisches Differenzgeschehen, das jedoch nicht distinkt verfasst ist“ (Hörisch 2009). Eichendorffs und Heines Naturrauschen ist für Hörisch genauso dem Bedeutsamen zuzurechnen, wie die Steinformation im englischen Stonehenge, weil wir, beziehungsweise weil die Instanzen der lyrischen Texte Heines und Eichendorffs nicht wissen, was es bedeutet, aber davon ausgehen, dass es bedeutet. Bedeutsamkeit meint also, kompakt ausgedrückt, spezifisch-unspezifische Formen von Zeichenbedeutung – Formen, die zahlreiche literarische Texte des pantheistisch-monistischen Dispositivs für sich beanspruchen. Die untersuchten Texte figurieren Welt folglich als etwas überhaupt erst Bedeutsames, etwas, das weniger eine spezifische Zeichenbedeutung hat, sondern vor allem von Bedeutung ist. Anders formuliert: Man hat es mit Literatur zu tun, die übercodierte, aber unterdeterminierte Lexeme zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Poiesis macht. Das Resultat sind häufig ein vages ,Raunen‘, eine evozierte ,Tiefe‘ des literarischen Textes, die sich mit Hilfe des Bedeutsamkeitstheorems jedoch präzise als semiotische Phänomene beschreiben lassen.
Daran knüpft sich die Frage an, welchen Transformationen das Bedeutsame im Rahmen der zeitlichen Schwerpunkte des Projekts ausgesetzt ist? Wie verändert es sich ausgehend von den Schwellenzeiträumen 1800 / 1900? Pantheistische Überlegungen um 1800 gehen davon aus, dass eine Ordnung der Dinge vorliegt, die sich in der Natur auffinden lässt. Gott hat elementare Weltstrukturen geschaffen und ist ihnen immanent. Welt geht also ein sinnhafter Zusammenhang voraus, in den sich der Mensch einfügt.
Die Idee solch einer bedeutsamen Welt erfährt im Laufe des 19. Jahrhunderts eine empfindliche Irritation. Mit einer Amalgamierung von (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen (insbesondere Deszendenztheorie) und ersatzreligiösen Einheitsvorstellungen versucht die monistische Weltanschauung auf dieses Sinndefizit zu reagieren. Der modernen Entzauberung der Welt wird also mit einer semiotischen Rückverzauberung begegnet, wie man im Anschluss an die Säkularisierungsforschung formulieren kann.
Mit dem Projekt geraten die zuvor etwa medienhistorisch verglichenen Zeiträume 1800 / 1900 (vgl. Kittler 1985) unter weltanschaulichen Gesichtspunkten in den Blick. Mit dem skizzierten zeichentheoretischen Ansatz wird der literatur- und kulturwissenschaftlichen Weltbildforschung (vgl. Breidbach 2015; Fliedl 2009; Nünning 2009) eine neuartige Perspektivierung an die Seite gestellt. Dabei macht es sich das Projekt zur Aufgabe, anhand der Zeiträume 1800 / 1900 eine differenzierte Theorie literarischer Bedeutsamkeit vorzulegen. Diese reicht über Hörischs verdienstvolle, aber mitunter en passant vorgehende Reflexion des Begriffs hinaus, um so eine irritierende Lücke des literaturwissenschaftlichen Diskurses zu schließen.