Literarästhetisches Lernen außerhalb des Klassenzimmers – interdisziplinäre Perspektiven

Ziel der Tagung ist es, Konzeptualisierungen für literarisches Lernen außerhalb des Klassenzimmers zu entwickeln und dadurch einen Beitrag zur diversitätssensiblen Heranführung von Lernenden an geschichtenerzählende oder sprachspielerische ästhetische Gegenstände zu leisten. Im Kern wird es darum gehen, informelle Lernumgebungen (Lesekreise), Alltagsorte (Parks, Stadträume), aber auch Literaturausstellungen und literarische Inszenierungen (z. B. Literaturpfade, Märchenwälder, Literaturinstallationen) als Gegenstände für den Literatur- und Medienunterricht zu perspektivieren. Der Zugriff wird interdisziplinär erfolgen und die Seite der Ausstellungsmacher:innen/Szenograf:innen, Kurator:innen, Planer:innen und Museumspädagog:innen ebenso wie die Seite der Literatur- und Mediendidaktiker:innen sowie die schulpraktische Sicht der Lehrer:innen in den Blick nehmen. Angestrebt wird eine mediale Erweiterung der Gegenstände des Literaturunterrichts von der Primarstufe bis zur Erwachsenenbildung, wobei gerade der interdisziplinäre Blick dazu verhelfen soll, gemeinsam Herausforderungen, Schwierigkeiten und Besonderheiten des Gegenstandes zu eruieren.

Während in vielen Fächern die Beschäftigung mit außerschulischen Lernorten weit fortgeschritten ist (vgl. etwa Baar/Schönknecht 2018; Adam/Karpa/Lübbecke 2015), bleibt der Diskurs in Bezug auf das Fach Deutsch und noch spezifischer in Bezug auf den Literaturunterricht deutlich weniger reichhaltig (Ausnahmen bilden z. B. Bernhardt 2023; Ott/Wrobel (Hg.) 2019; Grisko/Seibert 2009). Der Unterschied zu den sachvermittelnden Fächern besteht darin, dass diese an authentischen Orten primäre Erfahrungen ermöglichen können. Wenn beispielsweise im Sachkundeunterricht das Thema Bergbau behandelt wird, bietet sich der Besuch in einem Bergwerk an, wird im Biologieunterricht das Thema Wald behandelt, kann eine authentische Erfahrung im Erlebnisraum Wald herbeigeführt werden (vgl. Bernhardt 2023: 9). Derartige Primärbegegnungen lassen sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit Literatur und Medien schwerlich realisieren. So bilden literarische Texte oder geschichtenerzählende Medien nicht die Realität ab, sondern konstruieren selbst jeweils fiktionale Welten. Literatur ist auch nicht zu verwechseln mit ihren Trägermedien (also z. B. dem gedruckten Text), sondern ist immateriell und zu großen Teilen auch das, was im Kopf der Rezipient:in entsteht (vgl. dazu ausführlich Bernhardt 2023: 102–107). Dementsprechend scheint es schwierig, zu bestimmen, inwiefern außerschulische Lernorte Bezüge zum literarischen Lernen herstellen, Beiträge zum literarischen Lernen leisten und ästhetische Erfahrungen ermöglichen können.Das Aufsuchen einer Druckerei oder eines Archivs mit Handschriften oder Satzfahnen aus dem Kontext der Entstehung eines literarischen Werkes bietet keine poetische oder ästhetische Literaturbegegnung, sondern Kontextwissen aus dem Umfeld der Literatur (vgl. dazu schon Barthels (1984) Überlegungen zu Literaturausstellungen, die ihm zufolge nur Umfeldausstellungen sind).

Beim außerschulischen Lernen handelt es sich aber um weniger stark in die üblichen schulischen Vermittlungsstrukturen eingebundene Lernvorgänge. Dabei ist zu unterscheiden zwischen außerschulischen Lernorten mit Vermittlungsauftrag wie etwa Gedenkstätten oder Museen und authentischen Orten ohne Vermittlungsauftrag. Bei letzteren kann es sich um jeden beliebigen Raum handeln: Ein Stadtraum, eine Landschaft oder ein Gebäude können dann zu einem Lernort werden. In diesem Sinne können Literaturspaziergänge oder Parks zu Orten werden, an denen ästhetische Erfahrungen in einem spezifischen Sinne angestellt werden. Im Unterschied zur Institution Schule handelt es sich dabei um sinnliche Erfahrungen aus erster Hand. In der Tat bieten sich hier furchtbare Möglichkeiten einer anderen, intensivierten Wahrnehmung, wenn eine Landschaft oder ein Stadtraum nicht aus bloß pragmatischen Gründen durchschritten wird, sondern das Betrachten um seiner selbst willen geschieht. Wird allerdings der Versuch unternommen, derartige Spaziergänge oder Stadtbetrachtungen in den Kontext des Lernens zu stellen (vgl. etwa Mergen 2024), ist wie allgemein im Umgang mit Literatur darauf zu achten, dass es nicht zu normiert wird und keine Unterordnung unter die insititutionalisierten Zwänge des Lernens mit sich bringt, wodurch eine Unterminierung der ästhetischen Potenziale gegeben wäre.

Unter der Prämisse, dass Literatur vornehmlich als ein Ereignis verstanden wird, das in der privaten Begegnung erfolgt, lassen sich aber womöglich auch ganz einfache Begegnungen an außerschulischen Orten denken: Eine gesprächsbezogene Begegnung mit Literatur außerhalb herkömmlicher Vermittlungskontexte möglich. Dann ginge es darum, außerhalb des normalen Unterrichts über Literatur zu sprechen und dabei von institutionalisierten Zwängen befreite Sichtweisen auf Literatur zu ermöglichen. Fraglich bleibt, inwieweit eine solche Lösung möglich ist, wenn die Akteur:innen aus der Institution Schule/Universität dieselben bleiben. Ähnliches gilt für Ausstellungen und Museen: Auch hier ist stets das Spannungsfeld aus individueller Erfahrung und Vermittlung zu bedenken.