Nachruf
Hans Jürgen Krysmanski, Professor für Soziologie am Münsteraner Institut von 1971 bis zu seiner Emeritierung 2000, ist am 9. Juni in seinem Wohnort Hamburg verstorben. Trotz Emeritierung ging seine Arbeit weit über seine Entpflichtung hinaus. So wollte er bereits 2000 den Schritt der Emeritierung eher „dilatorisch“ behandelt wissen, auch, um die damit verbundenen Erfahrungen zu reflektieren und die ihm nach der Entpflichtung verbleibenden Rechte im Interesse der Studierenden und seines Fachs zu erkunden. Und gerade das macht den Tod von Hans Jürgen Krysmanski, von „Krys“, wie ihn viele am Institut nannten, zu einem so großen Verlust – neben einem großartigen Menschen, verliert die Soziologie einen innovativen, fantasievollen und streitbaren Denker, der sichtbar Spaß an der Analyse der Gesellschaft hatte.
In den letzten 20 Jahren bestand diese Freude vor allem darin, neue Ausdrucks- und Arbeitsmittel für das Verstehen der Welt zu entdecken, auszuprobieren und weiterzuentwickeln: In den1990er Jahren machte er Filme für das Fernsehen, soziologische Dokumentationen über so profane Ereignisse wie den letzten Flug einer Interflug-Maschine, den Mann, der Sibirien kaufen wollte oder über Münster, eine Stadt die online geht. Überhaupt beschäftigte er sich als Soziologe mit dem Internet, als es für die meisten Kollegen und Kolleginnen ein noch eher neues, bisweilen befremdliches Thema war. Er umarmte es, es wurde zu seinem Reflexionsapparat innerhalb einer geopolitischen Ästhetik, wie sie Fredric Jameson entworfen hat und die zu einem der Eckpunkte seiner marxistischen Analyse der Gesellschaft und des Kapitalismus wurde.
Es waren von Anfang an sehr besondere Themen, die er in Verbindung mit dem nun durch die Weltmaschine Internet vernetzten Kapitalismus in Verbindung brachte: die Superreichen und Eliten; die Verschwörung als Methode der Erkenntnis; und die Macht-Struktur-Forschung, die sich wie kaum eine aktuelle soziologische Richtung mit den globalen Verstrickungen, technischen Innovationen und den sich entwickelnden, bald entfesselten Folgen neuer Spielarten des Kapitalismus beschäftigte. Was wie ein Bruch ausgesehen haben mochte, nachdem der Kalte Krieg ein Ende fand und sich die Marxisten hier und da neu orientieren mussten, war bei Hans Jürgen Krysmanski die konsequente Fortführung seiner bisherigen Arbeit zu Fragen des Kapitalismus, des Systemvergleichs, des Globalen und auch der von ihm betriebenen Friedensforschung.
Ich selbst lernte Krys 1995 kennen, kann also wenig zu seiner Karriere bis dahin sagen. Das können andere besser und ausführlicher, siehe: http://www.rainer-rilling.de/blog/?p=3293. Als ich ihn kennenlernte, beschäftigte mich gerade mit dem Internet und nahm an einem seiner Seminare zu dem Thema teil. Kurze Zeit später wurde ich Mitarbeiter in einem von ihm eingeworbenen EU Projekt, dem European Popular Science Project. Und um ehrlich zu sein, wusste ich lange nicht genau, worum es ihm genau ging. Einige Erkenntnisse kamen erst lange Zeit später, als ich längt promoviert war und er zu einem meiner regelmäßigen Gesprächspartner wurde. Ein Satz aus diesen Gesprächen steht exemplarisch für sein Verständnis von Gesellschaft und deren Analyse: „Die Mittelschicht überwacht die Unterschicht im Auftrag der Oberschicht.“ Letztere, so hat er gezeigt, kommt auch bei uns SoziologInnen noch immer ein wenig zu kurz und kann viel zu oft unbeobachtet agieren.
Für seine Analysen nutzte Hans Jürgen Krysmanski sehr häufig Elemente der Popkultur oder gar gleich ganze Filme und Hollywood Culture. Er gab Seminare mit im Hintergrund laufenden Filmen, Veranstaltungen zu Star Trek, zu Wissenschaft in Filmen der Massenkultur. Da war seine Vorliebe für einsame Denker und auf den ersten Blick ‚spinnerte‘ Genies, wie Carl Sagan oder frühe Internetpioniere. Das wirkte oft irritierend, blieb aber nicht ohne Einfluss auf mich und andere, die in den Jahren am Institut mit ihm arbeiteten. Es hat sich gezeigt, dass man die Motive der Verschwörung, der globalen Ästhetik und des cognitive mapping, gewinnbringend auch für die Soziologie nutzen kann. Darüber hinaus war es sein Verständnis für die Wirkungsmacht des Bildes und seine Lust an bildnerischer Darstellung, die viele beeindruckte. Es war das Spielerische in Erkenntnissuche, welches ich daran bis heute schätze. In diesem Sinn war er für mich und andere ein Lehrer, der trotz seiner marxistischen Prägung, frei von soziologischen Ideologien war, frei von der oftmals engstirnigen Schulenbildung, dem festgefahrenen Methodenkorsett, den stromlinienförmigen Publikationspraxen, die unser Metier heute so tiefgreifend prägen, und in dem das Spielerische verloren zu gehen droht.
Er war immer, wie seine ehemalige Mitarbeiterin Katy Teubener feststellt (auch sie Absolventin des Institutes), ein Suchender, ein Grenzgänger mit Leidenschaft, Weitsicht und großer Sachkenntnis, ein Wanderer am Weltenrand. In einem Interview mit ihr hat er sehr klar umrissen, wie er seine Rolle als Dozent und Wissenschaftler versteht: „Der Dozent nimmt sich in seiner Rolle als Wissender zurück und versucht selber als Wanderer in den Netzwelten zu erscheinen. Was er darstellt, ist das Suchen und nicht das Gefunden-haben.“ Es war die offene Suche nach Information und Sinn, die seine Soziologie so spannend, so erkenntnisreich und vor allem so anders machte.
Sein letztes Buch über Karl Marx, eine social fiction, war innovative Soziologie par excellence. Nun ist Hans Jürgen Krysmanski tot und die Soziologie verliert damit einen originellen Denker, einen Kämpfer für eine besondere Idee der Wissenschaft, jenseits von Schulen und formiertem Denken, voller, oft verrückter Ideen, immer eine Inspiration für alle, die mit ihm zu tun hatten. Fast bis zum Schluss hat er Seminare an seinem alten Institut in Münster gehalten, war präsent und konnte seine Soziologie weitergeben. Ich hoffe es gelingt meiner Generation, denen, die mit ihm gearbeitet haben, seinen Schülern in einem sehr unbestimmten Sinn, etwas davon weiterzugeben. Es lohnt sich und würde auch in Zukunft die Soziologie reicher und spannender machen. Ich bin überzeugt davon, dass diese Art der Erinnerung in seinem Sinn gewesen wäre – weniger Heldenverehrung, denn die weitere Suche nach den Weiten der Netzwelten, wie immer sie auch aussehen mögen.
Nils Zurawski
30.6.2016