Schau-Prozesse. Inszenierungen des Rechts als soziale Praxis
Das Teilprojekt untersucht, wie in Schau-Prozessen das Recht als soziale Praxis inszeniert und das komplexe Verhältnis von Recht und Politik zur Schau gestellt wird. Als Schau-Prozesse werden, im Gegensatz zum politischen Kampfbegriff des ‚Schauprozesses‘, diejenigen Gerichtsprozesse adressiert, die eine starke mediale Aufmerksamkeit und Öffentlichkeitswirksamkeit erfahren haben und die zum Stoff von Theaterinszenierungen geworden sind – wie etwa der NSU-Prozess. An deren Beispiel untersucht das Teilprojekt, wie theatrale Elemente für das Recht konstitutiv werden und wie umgekehrt Inszenierungen des Rechts das Theater prägen. Dabei steht das Politische als verbindendes Element im Fokus des Teilprojekts: Wo das Politische inszeniert wird, sei es auf der Theaterbühne oder im Gerichtssaal, tritt die gegenseitige Konstituierung von Theater und Recht offen zutage. Die gemeinsame theatrale Konstitution von Gericht und Bühne ruht auf ihrer jeweiligen Öffentlichkeit und zeigt sich in der Rhetorizität, Performativität und Affektivität beider Inszenierungen.
Das Teilprojekt wird mithilfe eines pragmatischen Zugriffs auf Recht und Inszenierung soziale Praktiken des Rechtshandelns als theatrale Praktiken und theatrales Handeln auf den (medialen) Bühnen als Rechtshandeln erklären. Recht ist in pragmatischer Perspektive nicht schon in Gesetzestexten festgezurrt, sondern wird erst in der Praxis des gelebten Rechts konstitutiv begründet. In gewisser Weise nehmen auch Theaterinszenierungen an dieser Praxis teil und machen die politische Dimension des Rechtshandelns sichtbar: Auf der Theaterbühne wird das Interpretieren des Rechts als politische Praxis inszeniert, während im medialen Schau-Prozess das Gericht zur Bühne des Politischen wird. Gericht und Theater fungieren im Schau-Prozess als „Erscheinungsräume“ des Politischen, als Arenen, in denen das Politische ausgetragen wird. Das Theater inszeniert Prozesse des interpretierenden Rechtshandelns metaperspektivisch, es reflektiert und befragt sie. Theaterinszenierungen arbeiten so an sozialen Bedeutungsdimensionen des Rechts mit. Damit handeln nicht Politik und Rechtsprechung allein die Bedeutung des Rechts als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens aus, auch Literatur ist hieran in hohem Maße beteiligt. Aktuelle Dramen und Theaterinszenierungen verhandeln das Recht, indem sie die sozialen und dramatischen Praktiken des Rechtshandelns auf die Bühne bringen (z.B. Zeugen! von Rimini Protokoll, Das Kongo Tribunal von Milo Rau), die Grenzen des Rechts angesichts aktueller politischer Problemlagen als Szenario ausloten (z.B. Ferdinand von Schirachs Terror) oder Gerichtsprozesse als Bühne des Politischen inszenieren (z.B. Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen, Milo Raus Die Moskauer Prozesse). „Reale“ Gerichtsprozesse sind freilich ihrerseits schon von theatralen Elementen durchzogen. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass Prozesse grundsätzlich öffentlich sind. Die Gerichtsöffentlichkeit, die durch eine jüngere Gesetzesänderung auch medial erweitert wurde, ermöglicht Schau-Prozesse auf der ‚Bühne‘ des Gerichts. Solche Schau-Prozesse werden oft zu Inszenierungen des Politischen. Das führt der radikal politisierte NSU-Prozess vor Augen, wenn Ralf Wohlleben rechtsradikales Gedankengut (konkret unter anderem eine Verschwörungstheorie über den Tod von Rudolf Heß) auf der Bühne des Prozesses verhandeln lässt. Anhand solcher Schau-Prozesse wird das Teilprojekt untersuchen, wie theatrale Elemente des Rechts seine Form, seine Inhalte und seine Legitimität beeinflussen können. Das Gericht fungiert dabei als Ort, an dem drei zentrale Dimensionen für Inszenierungen des Rechts als sozialer Praxis zusammenkommen: als dramatischer Schauplatz, als Bühne des Politischen und freilich als Austragungsort des Rechts per se. Im Gerichtssaal materialisiert sich das Verhältnis von Politik und Recht. Der auf der theatralen Bühne ausgetragene politische Schau-Prozess ist demnach als Zuspitzung dieses Verhältnisses zu lesen. Das Teilprojekt untersucht den Schau-Prozess deshalb auch im Hinblick darauf, wie Theaterinszenierungen als Verhandlung, als Szenario und als Re-Enactment des Verhältnisses von Politik und Recht fungieren und welchen Einfluss die theatralen Elemente des Rechts auf dieses Verhältnis nehmen können.