(B2-7) Die Macht des Mediums. Spiritismus und soziale Ordnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Der Spiritismus als rituell geregelte Kommunikation mit den Geistern Verstorbener ist ein in der Menschheitsgeschichte tief verwurzeltes, interkulturell weit verbreitetes Phänomen. Seine neuzeitliche Geschichte beginnt als Reaktion auf rationalistische Strömungen der Aufklärung, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und den USA neuartige hochspekulative Weltdeutungen ein Alternativangebot zu den unter die aufgeklärte Religionskritik geratenen herkömmlichen Frömmigkeitsstilen schufen. Zu einer Massenbewegung wurde der Spiritismus schließlich im Gefolge der in der zeitgenössischen Literatur vielfach beschriebenen Geschichte zweier Bauernmädchen, Margaret und Kate Fox, die im Jahr 1848 in ihrem Haus in der Kleinstadt Hydesville im Staat New York unerklärliche Klopflaute wahrgenommen haben wollten, die sie einem toten Hausierer zuschrieben. In der Tat schien der Klopfgeist die ihm gestellten Fragen sinnvoll zu beantworten, wie sich bald die interessierte Stadtbevölkerung vergewissern konnte. Die Nachricht wurde von der Presse begierig aufgegriffen und führte zu einer regelrechten spiritistischen Mode in den USA, aber auch in Europa. Die spiritistischen Phänomen erregten das Interesse von Wissenschaftlern ebenso wie von neuen Heilsanbietern, welche die spiritistischen Praktiken schließlich zu einer neuen religiösen Weltanschauung ausformten, die noch heute zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger aufweisen kann.
Der moderne Spiritismus ruhte in seiner Entstehungs- und Hochphase gegen Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Verschränkung mehrerer kulturgeschichtlich bedeutsamer Entwicklungen auf: Zum einen steht er im Kontext früher religiöser Pluralisierungsprozesse in Europa und den USA; zum anderen steht er im Zusammenhang mit tiefgreifenden mediengeschichtlichen Umwälzungen der damaligen Zeit. So ist insbesondere die transatlantische Verbreitung des Spiritismus ohne das Aufkommen der modernen Massenpresse kaum denkbar. Hinzu kommt, dass die Ausbildung des Spiritismus als religiöse Weltanschauung in eine Zeit fällt, in der innovative Techniken der Nachrichtenpräsentation und -übertragung neue Formen von ‚Medialität’ erschlossen. So wurde insbesondere die Erfindung des elektromagnetischen Telegraphen für viele Spiritisten zur Folie ihrer religiösen Imagination einer Nachrichtenübertragung aus dem Jenseits. Insbesondere diese Verschränkung von religions- und mediengeschichtlichen Prozessen soll in dem hier skizzierten Projekt genauer analysiert werden. Darüber hinaus soll das Projekt einen Beitrag leisten zur Untersuchung der Entstehung religiöser Alternativkulturen im Prozess voranschreitender Säkularisierung.
Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform E Differenzierung und Entdifferenzierung und der Koordinierten Projektgruppe Säkularisierung und Sakralisierung der Medien.