Erinnerung – Trost – Kritik: Beiträge der Literatur zur Krisenbewältigung
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Auf dem Friedhof von Bergamo, jener Stadt in der Lombardei, die, wie Mario Draghi anlässlich des ersten nationalen Gedenktages formulierte, „Symbol für den Schmerz einer ganzen Nation“ ist, erinnert ein marmorner Gedenkstein in Form eines Buches an die Opfer der Corona-Pandemie. Darin eingraviert ist das Gedicht „Tu ci sei“ („Du bist hier“) des Schriftstellers und katholischen Aktivisten Ernesto Olivero. In seiner repräsentativen Darstellung stiftet das Gedicht Erinnerung. Es fasst das spezifische Leid in Worte, das durch die Pandemie hervorgebracht wird. Im Vergleich zu anderen existentiellen Notsituationen liegt das Besondere einer pandemischen Krise wohl darin, dass der Schmerz über Krankheit und Verlust durch Kontaktbeschränkung und Isolation verstärkt wird, die im schlimmsten Fall dazu führen, dass Menschen ihren schwerkranken Angehörigen nicht nahe sein, ihnen nicht beistehen können. Oliveros Gedicht stellt diese pandemiebedingte Situation des einsamen Leidens und Sterbens vor Augen, es beschreibt „le persone che muoiono sole,/ sole, con a volte incollato/ sul vetro della rianimazione/ il disegno di un nipote,/ un cuore, un bacetto, un saluto” („die Menschen, die allein sterben, allein, bisweilen mit der Zeichnung von einem Enkelkind an der Scheibe des Intensivstationzimmers, ein Herz, ein Kuss, ein Gruß“). Trost spendet das Gedicht aus der Perspektive des christlichen Glaubens: Mit der 13-mal wiederholten Formel „Tu ci sei“ verweist es auf die Anwesenheit Christi, die die Furcht der Sterbenden in heiteres Vertrauen verwandele. So seien sie trotz der Abwesenheit ihrer Angehörigen und Freunde im Moment des Todes nicht allein gewesen.
Literatur, die von pandemischen Ereignissen handelt, kann unterschiedliche Ziele verfolgen: Sie kann Erinnerungs- und Trostfunktion haben und dabei zugleich eine kritische Analyse der Ereignisse im gesellschaftspolitischen Kontext hervorbringen, die es ermöglicht, mit der Krise und ihren Folgen umzugehen. Eine Kombination dieser Aspekte leistet Boccaccios Beschreibung der Pestepidemie auf der Rahmenebene des Decameron. Dass dieser Text die Erinnerung an die mittelalterliche Pest wachhält, zeigt allein die starke Rezeption, die das Werk seit Beginn der Corona-Pandemie erfahren hat. Dass die Novellensammlung Trost spenden will, belegt bereits der erste Satz des Vorworts: „Umana cosa è aver passione degli afflitti.“ („Sache des Menschseins ist es, Mitleid mit den Betrübten zu haben.“). Anders als Oliveros Gedicht, das Trost aus dem christlichen Glauben herleitet, spricht Boccaccio der Literatur – quasi in Konkurrenz zur Religion – eine eigenständige Trostfunktion zu, die er auch für sein Decameron in Anspruch nimmt. Die eigentliche Pestbeschreibung sodann enthält eine eingehende Analyse gesellschaftlichen Fehlverhaltens: Die Pest zerstört die Regeln des menschlichen Miteinanders, seien sie rechtlicher, religiöser oder moralischer Natur, und bringt in einer Art Ausnahmezustand, in dem jeder sich selbst der Nächste ist, alles Schlechte ans Licht, das vorher bereits latent in der Gesellschaft vorhanden war, aber von den geltenden Normen im Zaum gehalten wurde. Dagegen setzt Boccaccio einen Prozess der Gemeinschaftsbildung: Mit dem Erzählen der 100 Novellen, die gesellschaftlich relevante Aspekte des menschlichen Lebens reflektieren, finden die Erzählerinnen und Erzähler einen Weg, mit der Seuche und deren sozialen Folgen umzugehen.
Die spanische Schriftstellerin Raquel Lanseros veröffentlicht im März 2020 in der Zeitschrift El cultural das Gedicht „Inmunidad de grupo“. Dem Gedicht ist ein längeres Zitat aus dem Decameron vorangestellt, das eben jene Frage nach dem moralisch guten Handeln in pandemischen Krisen aufwirft. Lanseros eigener Text beleuchtet, über welch eine Welt die Corona-Pandemie hereingebrochen ist:
Y quién iba a decirnos a estas horas
de vuelos bajo coste y celulares de alta tecnología
que nunca hemos dejado de ser naturaleza
que las poses, el lucro, la autosuficiencia
una tramoya kitsch de gallinitas ciegas.
(„Und wer hätte gedacht, dass wir in der heutigen Zeit/ von Billigflügen und Hightech-Handys/
nie aufgehört haben, Natur zu sein/ dass das Getue, der Profit, die Selbstgenügsamkeit/ eine kitschige Handlung von blinden Hühnern ist.“)
In einer Welt, die auf ökonomischen Gewinn ausgerichtet ist und die Natur dabei aus dem Blick verloren hat, fordert das Gedicht Mitmenschlichkeit und (Nächsten-)Liebe als Grundlage für den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie:
gracias a otros, con otros, para otros
desde unos a los otros
los otros, que es uno de los miles de nombres del amor
amor que no hace cuentas
amor que mide en siglos sus instantes
amor que mueve el sol y las otras estrellas
amor también llamado inmunidad de grupo.
(„Dank anderer, mit anderen, für andere/ von einem zum anderen/ die anderen, was einer der tausend Namen der Liebe ist/ Liebe, die nicht zählt/ Liebe, die ihre Momente in Jahrhunderten misst/ Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt/ Liebe, auch Herdenimmunität genannt.“).