„Menschliche Grundbefähigung zur Geisterseherei“
Hans-Blumenberg-Gastprofessor Hauschild über „Geisterseherei“ im deutschen Vormärz
Der Ethnologe Prof. Dr. Thomas Hauschild hat in der öffentlichen Blumenberg-Vortragsreihe am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ über religiöse „Geisterseherei“, Schamanismus und Neurobiologie im deutschen Vormärz gesprochen. „In den deutschsprachigen Ländern des Vormärz kam eine Welle moraltheologisch unterlegter Dämonologie auf“, sagte der Inhaber der Hans-Blumenberg-Gastprofessur. „Diese Geisterseherei entlud sich bei Protestanten, Katholiken und Atheisten in einer Fülle archaischer Praktiken, die nebenbei die Ursprünge der modernen Neuropsychiatrie erkennen lassen – etwa als Experimente mit dem Sichtbaren und mit Nervenstrukturen.“ Der Vortrag trug den Titel „‚… über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere‘. Schamanismus und Neurobiologie im deutschen Vormärz“ und bildete den Abschluss der Vortragsreihe des Hans-Blumenberg-Gastprofessors über „Die Unvermeidbarkeit von Religion“.
Eine Einführung ins Themenfeld der Vortragsreihe zum Nachlesen oder Nachhören gibt der Wissenschaftler im Interview mit dem Deutschlandradio in der Sendung „Tag für Tag“.
„Zahlreiche Schriftsteller und Denker des 19. Jahrhunderts reagierten auf die Dämonologie-Welle“, erläuterte Prof. Hauschild. Der Wissenschaftler zeichnete dies anhand ausgewählter Schriften von Karl Marx, Justinus Kerner und Annette von Droste-Hülshoff nach. „Marx etwa schrieb 1842 von Dämonen, welche der Mensch nur besiegen könne, indem er sich ihnen unterwerfe.“ Diese Dämonen verknüpften nach Marx Gewissen und Verstand der Kommunisten, weshalb die Idee des Kommunismus unbesiegbar sei. „Versuche der mentalen Bewältigung von materieller und seelischer Not“ zeigte der Ethnologe eingehend in Justinus Kerners Schrift über die Seherin von Prevorst (1829) auf sowie in der „Spökenkierei“ von Annette von Droste-Hülshoff.
Mobilisierung „schamanistischer Reserven“
Justinus Kerner hatte als Arzt und Schriftsteller Ereignisse um die Geisterseherin Friederike Hauffe ausführlich aufgezeichnet und literarisch verarbeitet. Die vielfältige Kommunikation der Seherin mit übersinnlichen Gestalten stellte Prof. Hauschild als „Mobilisierung physischer und kultureller Reserven“ vor. „Auch andere Geistergeschichten der damaligen Zeit spiegeln historische Umstände wider, die geprägt waren von sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen.“
„Diese Bewältigungsversuche mündeten schließlich in die verquere Geschichte der Revolution von 1848 und der nachfolgenden Restauration“, unterstrich Hauschild. Darin eine „totale Auflösung der religiösen in politische Praktiken“ zu sehen, wird dem Ethnologen zufolge jedoch den Selbstbeobachtungen von Marx, Kerner und Droste-Hülshoff nicht gerecht. „Sie mobilisierten schamanistische Reserven und neurobiologische Experimente, die auch heute noch nicht an Realismus und Wirkmächtigkeit verloren haben.“
Vortragsreihe „Die Unvermeidbarkeit von Religion“
Prof. Dr. Thomas Hauschild war zuletzt Professor für Ethnologie und vergleichende Kultursoziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Fellowships und Gastprofessuren führten ihn unter anderem an das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, das Wissenschaftskolleg zu Berlin und das Internationale Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Thomas Hauschild hat zahlreiche, viel beachtete Publikationen vorgelegt, darunter „Hexen“, „Der böse Blick“, „Magie und Macht in Italien“ (2002), „Ritual und Gewalt“ (2008), und „Weihnachtsmann – Die wahre Geschichte“ (2012).
Die öffentliche Vortragsreihe trägt den Titel „Die Unvermeidbarkeit von Religion“. Der Blumenberg-Gastprofessor untersucht darin, „ob menschliche Kollektive letztlich ohne Religion leben können.“ Religionen beeinflussen nach Einschätzung des Wissenschaftlers „nach Jahrzehnten der Säkularisierung“ die Politik wieder so stark, dass sich die Frage nach ihrer Unvermeidbarkeit stelle. (dak/ill)