"Das Gerede von Werten führt nicht weiter"
Verfassungsrechtler Böckenförde warnt vor Überfrachtung der Integrationsdebatte
Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde warnt in der Integrationsdebatte vor zu weitreichenden Forderungen an Muslime. „Das aufgeblasene Gerede von Werten führt nicht weiter“, sagte er am Dienstagabend auf einem Symposium des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Migranten sollten keine Wertebekenntnisse ablegen müssen. Es gehe nur darum, dass sie das deutsche Recht akzeptierten und die Gesetze einhielten. „Innere Vorbehalte gegen diese Ordnung sind zu tolerieren“, so der Ex-Bundesverfassungsrichter. Auf dem Symposium „Religion – Recht – Demokratie“ würdigten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen das wissenschaftliche Lebenswerk Böckenfördes, der im September 80. Geburtstag hatte.
Der Rechts- und Staatstheoretiker, Historiker und Verfassungsrechtler äußerte die Hoffnung, dass die Muslime in Deutschland aufgrund praktischer Erfahrungen in Zukunft die grundsätzliche Trennung von Religion und Staat akzeptieren werden. „Freiheit ist ansteckend“, erklärte Böckenförde. Bedingung sei, dass die Einwanderer als gleichberechtigt akzeptiert würden. Der Jurist zog eine historische Parallele zwischen Muslimen heute und Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert. Diese hätten sich dem demokratischen Staat gegenüber loyal verhalten, innerlich aber von der damaligen katholischen Staatslehre her Vorbehalte gepflegt. Erst das Zweite Vatikanische Konzil habe zwischen 1962 und 1965 eine „kopernikanische Wende“ gebracht, indem es die Religionsfreiheit anerkannte.
Diskussionen von Böckenfördes Schriften in Anwesenheit des Autors
Mitglieder des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und Gäste von anderen Universitäten griffen zentrale Motive aus den Schriften Böckenfördes auf und diskutierten sie in Anwesenheit des Autors. Unter ihnen waren Historiker Prof. Dr. Mark Ruff von der amerikanischen Saint Louis University, der Bielefelder Soziologe Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann, Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Tine Stein aus Kiel sowie Historiker und Cluster-Sprecher Prof. Dr. Gerd Althoff, Sozialethiker Prof. Dr. Karl Gabriel und Jurist Prof. Dr. Christian Walter aus Münster. „Wir beschäftigen uns am Cluster seit drei Jahren intensiv mit Fragen, die Ernst-Wolfgang Böckenförde schon sehr viel länger und wirkungsmächtiger behandelt“, sagte Althoff.Böckenförde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit
dem Spannungsverhältnis von Politik, Recht und Religion in der Moderne,
mit der Lage von Kirche und Katholizismus, aber auch mit Fragen der
Wirtschaftsordnung und Bioethik auseinandergesetzt und öffentlich
Stellung bezogen, wie die Forscher hervorhoben. Der Bielefelder
Soziologe Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann sagte, Böckenförde habe sich
immer dadurch ausgezeichnet, „neuralgische Punkte“ sehr früh entdeckt
und auf den Begriff gebracht zu haben. Als Beispiele führte Kaufmann
Diskussionen um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, das Verhältnis
der Kirche zum Nationalsozialismus und den Abtreibungsparagraphen 218
an. Mit seinem „Zeit- und Weggenossen“ Böckenförde verbinde ihn ein
gläubig-kritisches Verhältnis zur Kirche, sagte Kaufmann, der auch
Mitglied im Wissenschaftlichen Bereit des Exzellenzclusters ist.
Der Darmstädter Theologe Dr. Hermann-Josef Große Kracht erklärte,
ohne Böckenförde hätte der Katholizismus in der Bundesrepublik
Deutschland nicht dieselbe „Freiheits- und Demokratiekompatibilität“
erreicht. Der Verfassungsrechtler sei „schwer in Schubladen
einzuordnen“, so der Münsteraner Historiker Dr. Klaus Große Kracht, aber
ein „unermüdlicher Anwalt der Unverfügbarkeit der Menschenwürde“. Die
beiden Wissenschaftler hatten die Tagung gemeinsam organisiert. Klaus
Große Kracht ist Nachwuchsgruppenleiter in der Graduiertenschule des
Exzellenzclusters, sein Bruder beteiligt sich am Cluster-Projekt C11
„Gewaltverzicht religiöser Traditionen. Der moderne Katholizismus im
Spannungsfeld von Distinktion und Integration“. (arn/vvm)