Jana Gamper

Student of the Graduate School Empirical and Applied Linguistics from SoSe 2011 to SoSe 2015

Professor of German as a second language specialising in controlled second language acquisition at Justus Liebig University Giessen: https://www.uni-giessen.de/de/fbz/fb05/germanistik/absprache/profdaz/daz_team/daz_ma_gamper

Dissertation

Der Erwerb des deutschen Kasussystems durch Grundschulkinder mit russischer Erstsprache

Der Erwerb des deutschen Kasussystems ist für Lerner des Deutschen als Zweitsprache aus unterschiedlichen Gründen mit Schwierigkeiten verbunden. Die Markierung der vier Kasus erfolgt im Deutschen meist an Determinierern, Adjektiven und Demonstrativ- und Possessivpronomen und nur in Einzelfällen am Nomen selbst. Zum anderen sind die jeweiligen Kasusmarkierungen multifunktional, was eine eindeutige Zuordnung von Form und Funktion verhindert.
Obwohl Russisch ebenfalls eine flektierende Sprache ist, lassen sich signifikante Unterschiede im Hinblick auf das Kasussystem feststellen. Die Markierung der sechs Kasus erfolgt grundsätzlich am Nomen und zusätzlich an Adjektiven und Pronomen. Obwohl auch im Russischen multifunktionale Kasusmarker existieren, ist die Validität der Kasusflexive insgesamt höher als im Deutschen. Dies wird auch auf der Ebene der Wortstellungsvariationen deutlich: Durch die hohe Validität der Flexionsmorpheme ist im Russischen eine höhere Variabilität in der Wortstellung möglich als im Deutschen. Dies führt dazu, dass Kasusmarkierungen im Russischen als valide
cues genutzt werden können, wenn semantische Rollen in einem Satz bestimmt werden müssen. Obwohl auch im Deutschen die Kasusmarkierung einen validen Hinweis für die Satzinterpretation liefern kann, verlassen sich Sprecher des Deutschen bei der Identifikation semantischer Rollen häufiger auf die Wortstellung als auf Kasusmarker. Für beide Sprachen gilt, dass neben den genannten morphologischen und syntaktischen cues auch semantische Merkmale (v.a. Belebtheit des Nomens) als Hinweise für die Rollenbestimmung genutzt werden können.
Auf der Grundlage dieser sprachsystematischen Betrachtung baut das Dissertationsprojekt auf folgenden Hypothesen auf:

  • Das sprachsystematische Wissen aus der L1 ermöglicht russischsprachigen Lernern des Deutschen als Zweitsprache, Kasusmarkierungen als valide cues für die Interpretation semantischer Rollen im Satz zu nutzen, sofern nominale Elemente eindeutig markiert sind.
  • Liegt keine eindeutige Kasusmarkierung vor, können russischsprachige Lerner andere cues nutzen (Syntax, Belebtheit), um eine Rollenzuweisung vorzunehmen. Die Wortstellung im Satz ist dabei ein zweitrangiger cue und sollte seltener zur Interpretation hinzugezogen werden.
  • Die sprachsystematischen Kenntnisse des Russischen führen demnach zur Ausbildung bestimmter Interpretationsstrategien, die sich von Lernern mit einer anderen Ausgangssprache (z.B. Niederländisch) unterscheiden. Diese sollten vorwiegend die Wortstellung als stärksten cue nutzen.

Zur Überprüfung der vorliegenden Hypothesen wird ein computerbasiertes Testdesign eingesetzt. Dabei werden einfache transitive Sätze nach Genus und damit einhergehender Kasusmarkierung, syntaktischer Varianz und Belebtheit der jeweiligen Nomen im Satz variiert. Die Aufgabe für die Probanden besteht darin, das Agens des Satzes zu bestimmen. Der Test wird mit russischsprachigen Kindern der dritten und vierten Klasse durchgeführt. Als Vergleichsgruppen dienen bilinguale Grundschulkinder mit niederländischer Ausgangssprache und monolinguale deutschsprachige Kinder. Niederländisch wurde als Kontrastsprache ausgewählt, da hier v.a. die zumeist invariante Wortstellung ausschlaggebender für die Satzinterpretation ist als die morphologische Markierung semantischer Rollen. Die Konzeption des Testformats erfolgt in Anlehnung an das Competition Model.
Mein Dissertationsprojekt verfolgt das Ziel, die Rolle der Ausgangssprache von DaZ-Lernern zu beleuchten und auf dieser Grundlage zu erfassen, ob und inwiefern sprachsystematische Unterschiede zwischen Erst- und Zielsprache den Erwerbsverlauf beeinflussen können. Die Untersuchung soll damit einen Beitrag zur aktuellen DaZ-Forschung leisten und neue Einblicke in Erwerbsstrukturen und Unterschiede im Zweitspracherwerbsverlauf aufzeigen.