Hartmanns von Aue Erzählung ›Der Arme Heinrich‹ entstand vermutlich in den frühen 90er Jahren des 12. Jahrhunderts. Der mit 1500 Versen recht überschaubare Text behandelt ein anspruchsvolles Thema und erreicht das hohe sprachliche Niveau, das für die mittelhochdeutsche Dichtung der sogenannten Blütezeit kennzeichnend ist. Er eignet sich so vorzüglich für eine Einführung in die mittelhochdeutsche Metrik.
In dieser Erzählung geht es weniger um Handlungsreichtum als viel mehr um das ‚innere Geschehen’, die gleichsam psychologische Ausgestaltung der Figuren und ihrer Handlungsmotivationen. Daraus resultieren etliche, durchaus anspruchsvolle Deutungsprobleme des Textes.
Erzählt wird die Geschichte des adligen Heinrich, eines Freiherrn von Aue (man beachte die Übereinstimmung mit dem Autornamen), dessen unbeschwertes Leben in Macht und gesellschaftlichem Ansehen sich schlagartig durch eine Lepraerkrankung (Aussatz) ändert. Sein Ansehen schwindet, die Umwelt begegnet dem Aussätzigen mit Abscheu und macht ihn zum Geächteten. Der Aussatz wird im Text eindeutig von Gott geschickt, offen bleibt allerdings der Grund dafür. Wird Heinrich einer Prüfung unterworfen wie Hiob? Oder wird er für eine, im Text allerdings nicht benannte, Verfehlung – man könnte an den Hochmut denken – bestraft?
Heinrich von Aue wendet sich Hilfe suchend an die Ärzte in Salerno, wo sich um 1200 die führende Hochschule für Medizin befand. Als einziges Heilmittel wird ihm dort das Herzblut einer Jungfrau genannt, die sich allerdings freiwillig für ihn opfern muss. Daraufhin gibt Heinrich die Hoffung auf Heilung auf und zieht sich auf einen Meierhof zurück. Dort trifft er auf die achtjährige Tochter des Meiers, die dem Aussätzigen ohne jede Scheu begegnet und in ihrer kindlichen Gutmütigkeit bald zu seiner ständigen Gefährtin und somit zur zweiten Hauptfigur der Erzählung wird. Liebevoll nennt Heinrich sie bald sein 'Ehefrauchen' (gemahel).
Nach drei Jahren erfährt das Mädchen von dem einzigen Mittel zur Heilung Heinrichs und ist sofort fest entschlossen, sich für ihn zu opfern. Sie kann ihre Absicht gegenüber Heinrich und ihren Eltern mittels einer rhetorisch und stilistisch ausgefeilten Rede durchsetzen und reist gemeinsam mit Heinrich nach Salerno. Als der Arzt das entkleidete Mädchen bereits gefesselt hat und sein Messer hebt, um ihr Herz herauszuschneiden, wird Heinrich in letzter Sekunde durch den Anblick des schönen Mädchens so angerührt, dass er ihre Opferung verhindert und sich stattdessen in sein gottgewolltes Schicksal fügt.
Da bewirkt Gott ein Wunder und heilt den armen Heinrich vom Aussatz. Er heiratet, in offener Mesalliance, die Meierstochter, und nach einem langen und glücklichen Leben gehen beide in die ewige Seligkeit ein.
Textausgabe:
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul. Neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17., durchgesehene Auflage. Tübingen 2001 (Altdeutsche Textbibliothek 3).
Für die Lerneinheit Metrik wird aus didaktischen Gründen auf folgende Auflage zurückgegriffen:
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul. 15., neu bearbeitete Auflage von Gesa Bonath. Tübingen 1984 (Altdeutsche Textbibliothek 3).
Mittelhochdeutscher Text mit Übersetzung:
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Übersetzt von Siegfried Grosse. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Stuttgart 1993 (Reclams Universal-Bibliothek 456).