LOUIS ARAGON ONLINE

Was ist neu in dieser Ausgabe? - Quoi de neuf dans cette édition?| Das Werk - L'oeuvre| Schallplatten und CDs - Disques et disques compacts| Biographie| Äußerungen Aragons - Dits d'Aragon| Bibliographie| Neuere Publikationen - Publications récentes| Informations| Maison Elsa Triolet - Aragon| Société des Amis de Louis Aragon et Elsa Triolet| Forum| Des critiques sur Aragon| Fragen und Antworten - Questions et réponses| Der Autor dieser Site - L'auteur de ce site |


 
  • Pour afficher la version française, cliquez ici.

Brocéliande
Entstehungszeit und Intention
Veröffentlichung
Gliederung
Charakterisierung des Poème
Zitate
Neuere französische Ausgaben
Übersetzungen
Bibliographie
Meinungen und Urteile der Kritik

Brocéliande

Poème

(1942)


Entstehungszeit und Intention des Poème

Das Poème Brocéliande wurde nach Aragons Angabe im Sommer 1942 in Nizza und Villeneuve-lès-Avignon verfaßt. Es gibt eine Beschreibung der Situation Frankreichs Mitte 1942. Aragons Originalität besteht darin, daß er für diese Beschreibung teilweise auf die Bilderwelt der mittelalterlichen Legende von Brocéliande zurückgreift, jenes "legendären Waldes, in dem die Romane der Tafelrunde den Zauberer Merlin und die Fee Viviane leben ließen". Der Zauberer Merlin verliebt sich in die Fee Viviane und bleibt, von ihr in einen Baum, einen Brunnen, ein Grab oder einen gläsernen Sarg in einem See verbannt, in ihrer Macht. Sie selbst war dank dem Wissen des Zauberers zu einer Fee geworden, die sich in Zauberkunststücken auskennt. Sie enthüllt Lancelot die Regeln des Rittertums. In der "Realität" identifiziert man Brocéliande mit dem Wald von Paimpont im Département Ille-et-Vilaine.

Die mit dem Wald von Brocéliande verbundenen Legenden waren Aragon seit langem bekannt. Vermitteln konnten sie ihm z.B. Maurice Barrès, der diesen Wald zu den Orten zählt, "an denen der Geist weht", und den er einen Ort "voller Rauschen und Irrlichter" nennt, "wo Merlin an Gewittertagen immer noch in seinem Brunnen stöhnt"1, und Guillaume Apollinaire, in dessen Erzählung L'Enchanteur pourrissant der Zauberer Merlin und die Fee Viviane figurieren.

Aragon evoziert die Legende ein erstes Mal in einem heute in den Umkreis von La Défense de l'infini gesetzten Text, dem sein erster Herausgeber, Édouard Ruiz, und in seinem Gefolge der Herausgeber der Pléiade-Ausgabe, Daniel Bougnoux, den Titel "L'Instant" gaben und der in der vollständigen Ausgabe von Lionel Follet "Le Mauvais Plaisant/Titus" heißt. Hier evozieren in der Phantasie des erzählenden Ichs die zufälligen Begegnungen mit den die Métrowagen überfüllenden Frauen "eine Art Zauberwald, und ich denke unweigerlich in diesem modernen Brocéliande an den beständigen Zauber, der die Schritte dieser eisernen Männer markierte, einstmals in der Bretagne von Arthus. Geht es nicht darum, vom Riesen der feinen Gesellschaft, vom Drachen, der sie in einer Wohnung voller Häßlichkeiten und Ängsten gefangen hält, eine sehr reine Frau, eine ephemere Frau, die nur die Dauer eines Schluchzers haben wird, zu befreien?"2 In "La Peinture au défi" (1930) sieht Aragon die Welt der Legenden als eine Gegenwelt zur christlich geprägten offiziellen Kultur des Mittelalters und erwähnt in diesem Zusammenhang den "Mythos von Viviane und Merlin" und "das blutige Herz der verzauberten Bäume".3

Das Frankreich des Jahres 1942 schließlich ist für Aragon ein Wald mit Ungeheuern und Helden, ein "Brocéliande", in dem "die Zauberer von Vichy und die Drachen Germaniens allen Worten einen pervertierten Beschwörungswert gegeben hatten, nichts wurde mehr bei seinem eigenen Namen genannt, und jede Größe war herabgesetzt, jede Tugend verhöhnt, verfolgt." In diesem "Wald Frankreich" erscheinen Ritter eines neuen Typs, die Leute der Résistance, und so kommt es zu einer "Reinkarnation der Legende in der Geschichte", "die Geschichte bestätigt die wieder aufgenommene Legende". Es war Aragons Absicht, den "Mythen" des Nationalsozialismus die französischen Mythen entgegenzustellen, "den Mythen der Rasse die Bilder der Nation entgegenzusetzen".4

Veröffentlichung

Das Poème erschien am 30.12.1942 in den Éditions de La Baconnière, Neuchâtel (Schweiz) in der von Albert Béguin herausgegebenen Reihe "Les Poètes des Cahiers du Rhône". Diese Reihe umfaßte mehrere Unterreihen. Brocéliande ist Band III der Unterreihe "Série rouge" (während Les Yeux d'Elsa Band III der "Série blanche" bildete). Die Auflage betrug 4080 Exemplare. Ein Nachdruck dieser Ausgabe erschien am 15.09.1945 (3000 Exemplare). Unabhängig hiervon war bereits am 31.07.1945 in Monaco (Verlag À la voile latine) eine Ausgabe veröffentlicht worden, die unter dem Titel En étrange pays dans mon pays lui-même das Poème Brocéliande mit der Sammlung En français dans le texte (1943) vereinte. Diese Ausgabe leitete Aragon mit seinem Essay "De l'exactitude historique en poésie" ein (880 Exemplare). 1947 brachte Pierre Seghers eine preiswerte Ausgabe dieses Bandes heraus.5. Ein weiterer Schritt bestand darin, den Band En étrange pays dans mon pays lui-même mit der Sammlung La Diane française (1944) zu vereinen. Verleger war Pierre Seghers. Dies ist die auch heute noch gängige Ausgabe der drei Werke Brocéliande, En français dans le texte und La Diane française.

Gliederung

Das Poème umfaßt sieben Teile, die abwechselnd aus Terzinen (in Alexandrinern) und freien Versen bestehen.

  1. "D'une forêt qui ressemble à s'y méprendre à la mémoire des héros" (Zitat)
  2. "Prière pour faire pleuvoir qui se dit une fois l'an sur le seuil de Brocéliande à la margelle de la fontaine de Bellenton" (Zitat)
  3. "Vestiges du culte solaire célébré sur les pierres plates de Brocéliande" (Zitat)
  4. "De la fausse pluie qui tomba sur une ville de pierre non loin de Brocéliande" (Zitat)
  5. "De l'arbre où ce n'est pas Merlin qui est prisonnier" (Zitat)
  6. "La nuit d'août" (Zitat)
  7. "Le ciel exorcisé" (Zitat)

Charakterisierung des Poème

Das Poème Brocéliande gehört zu den dunkelsten Texten, die Aragon in den Kriegsjahren geschrieben hat. Man merkt dies dann, wenn man sich nicht mit einigen allgemeinen Bemerkungen über das Werk zufrieden gibt oder nur die leicht verständlichen Verse herausgreift (die es auch gibt), sondern wenn man versucht, jden Sinn jedes einzelnen Vers aufzuschlüsseln und die konkrete Realität zu suchen, die sich hinter jedem Bild versteckt.. Das Gedicht bedürfte einer eingehenden Interpretation, die den Schwierigkeiten nicht aus dem Wege geht. Die folgenden Notizen erheben natürlich keinen derartigen Anspruch, sondern beschränken sich auf die Hervorhebung einiger weniger inhaltlicher Aspekte.

Teil 1. Terzinen. Allgemeine Bemerkungen über die Welt und das Leben, das - im Gegensatz zum Roman - immer wieder eine Fortsetzung findet. Vergleich der Welt mit dem Wald von Brocéliande: Aus ihm sind zwar die traditionellen legendären Gestalten (Kobolde, Feen) verschwunden, aber die schöne Vergangenheit lebt in ihm doch dank der Erinnerung weiter. Anspielung auf die Verhältnisse in Frankreich unter der Besatzung: Der heimische Wein berauscht die Eindringlinge ("andere"), die heimischen Ideale (Träume) dürfen nicht ausgedrückt werden, sie sind "in Quarantäne".

Teil 2. Freie Verse. Das Volk, unter der Trockenheit stöhnend, sehnt sich nach dem befreienden Regen, der die Hitze, den Staub, die Erstickung beseitigt. Der Regen symbolisiert die erwartete Befreiung Frankreichs. In einer Zukunftsschau schildert der Dichter den Zustand Frankreichs nach der seiner Befreiung, wenn die negativen Auswirkungen der "Hitze" beseitigt sein werden und die Bewohner sich wieder zu Hause fühlen. Ein berühmter Satz des Marschalls Pétain wird aufgegriffen ("Die Erde lügt nicht"), aber umgedeutet: Die Erde, die "Jean Pierre oder Michel" in eigener Verantwortung bearbeiten werden, wird wieder fruchtbar sein und insofern nicht "lügen".

Teil 3. Terzinen. Wunsch des Dichters, der neue "Heiland" möge "mein Volk" sein. Hoffnung auf Auferstehung (Einführung des "christlichen Wunderbaren"). Einführung der Sonne als Symbol für (vermutlich) Frankreich, für ein Frankreich, das sich in der Niederlage eingerichtet hat und den Willen der Besatzungsmacht erfüllt. Der Dichter appelliert an diese "Sonne", aus ihrem Alltagstrott zu erwachen, aus ihrer traditionellen Bahn auszubrechen, es sich nicht mehr gefallen zu lassen, wie ein braves Zirkustier die Befehle anderer zu befolgen. Es erscheint mir nicht mit dem Kontext (den der "Sonne" zugeschriebenen Eigenschaften) verträglich zu sein, die Sonne mit der Freiheit zu identifizieren, wie es Henri Hell tut, der die Sonne gleichsetzt mit "le libérateur de la France prisonnière, la liberté".1943

Teil 4. Freie Verse. Statt des erwarteten befreienden Regens, den eine kleine Wolke anzukündigen schien, geht ein "falscher Regen" nieder, d.h. ein Hagelschauer, der starke Verwüstungen anrichtet und große Enttäuschung mit sich bringt. Auch Heuschreckenschwärme fallen - wie eine der sieben Plagen Ägyptens - über das Land. Es muß vorläufig offen bleiben, auf welche konkreten, im Jahr 1942 auftretenden außerliterarische Fakten Aragon hier anspielt (vielleicht die Hinrichtungen auf dem Mont Valérien). Georges Sadoul weist darauf hin, daß dieser "Hagel" als Symbol für die Besetzung der freien Zone Frankreichs durch die deutschen Truppen am 11.11.1942 verstanden werden könnte, wenn dieses Ereignis nicht erst einige Monate nach Beendigung des Poème stattgefunden hätte; insofern erscheine Aragon hier als "Prophet".6 Einige in jenen Jahren übliche Metaphern und Metonymien ("Heuschrecken", "grüne Flügel", "grüner Wind") lassen jedenfalls klar erkennen, daß mit dem "Hagel" und den "Heuschrecken" die deutschen Soldaten bzw. deren Aktivitäten gemeint sind. Der globale Sinn ist also: statt der erwarteten Befreiung gibt es eine verschärfte Unterdrückung.

Teil 5. Terzinen. Wie der Zauberer Merlin in einer Version der Legende in einen Baum eingeschlossen war, sind heute zahlreiche Franzosen Gefangene der Besatzungsmacht oder liegen als Tote in der Erde Frankreichs. Die Märtyrer von heute sind vergleichbar mit den christlichen Märtyrern, denen man Kirchen geweiht, und mit den Kriegsgefallenen, denen man Denkmäler errichtet hat. Einbezogen werden in diese Verehrung neuer Heiliger auch für Frankreich gestorbene Angehörige nicht-französischer Herkunft.

Teil 6. Freie Verse. Der Dichter kündigt an, daß die Stunde der Gerechtigkeit geschlagen hat, und versichert, daß er sehr wohl die "Stimme der Opfer" hört. Periphrastisch, ohne ihre Namen zu nennen, evoziert er, sie direkt anredend, fünf prominente Opfer der deutschen Unterdrückung: Timbaud, Pierre Sémard, Georges Politzer, Lucien Sampaix, Gabriel Péri, die im Oktober 1941 (in Châteaubriant) bzw. im Mai 1942 (auf dem Mont Valérien) erschossen worden waren. Dieser Hommage ist eingebettet in die lyrische Beschreibung der sternenfunkelnden Augustnacht. Der Teil endet mit dem Wunsch des Dichters, jene "Nachtigall", jener "Sänger" zu sein, der den Schrei ausstößt, der die Befreiung auslöst, und das Ende der Nacht zu erleben.

Teil 7. Terzinen. Wohl zum ersten Male in seinem Werk geht Aragon relativ ausführlich das Thema der Zukunft an, das er mit dem der Erinnerung koppelt. Dieser Teil des Poème enthält auch einige theoretische Bemerkungen des Dichters über sein Tun. Er erläutert metaphorisch das Verfahren, das er später "Schmuggelliteratur" nennen wird.

Anmerkungen

1 Maurice Barrès, La Colline inspirée, ch. I, coll.LeLivre de poche, p. 5.

2 La Défense de l'infini, éd. Lionel Follet, p. 411.

3 Chroniques I, p. 371.

4Aragon, "De l'exactitude historique en poésie" (1945), L'OEuvre poétique, 2e éd., tome IV, livre IX-2, p. 108-112.

5Ich beziehe mich auf die in meinem Besitz befindliche Ausgabe: En Étrange Pays dans mon pays lui-même. En Français dans le Texte et Brocéliande par Aragon. Collection Poésie 47, Éditions Pierre Seghers. Achevé d'imprimer 30.09.1947. Édouard Ruiz gibt als Datum 1946 an (Aragon, L'OEuvre poétique, 2e éd., tome 4, p. 1226).

6 G. Sadoul, Aragon, 1967, p. 42.

Zitate

Neuere französische Ausgaben

  • Aragon: L'OEuvre poétique, 2eéd., tome IV, livre IX. Paris: Messidor/Livre Club Diderot, 1990, pp. 189-217
  • Aragon: Brocéliande in La Diane française. Paris: Éditions Seghers, 1962 (und weitere Auflagen)

Deutsche Übersetzung eines Gedichts

  • "Bitte um Regen die gesagt wird einmal im Jahr auf der Schwelle von Brocéliande am Rand der Quelle von Bellenton" ("Prière pour faire pleuvoir qui se dit une fois l'an sur le seuil de Brocéliande à la margelle de la fontaine de Bellenton"), übersetzt von Marianne Dreifuß in Aragon: Zu lieben bis Vernunft verbrennt, hg. von Marianne Dreifuß. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1968, p. 68-73

Bibliographie

Meinungen und Urteile der Kritik


Zurück zur Louis Aragon Homepage
Retour à la page d'accueil

Zurück zu Aragons mittlerer Schaffensperiode
Retour à la deuxième période créatrice

Zurück zu Aragons Gesamtwerk
Retour à l'index général de l'oeuvre d'Aragon

 

Letzte Änderung:
Dernière mise à jour:
21.01.99
Verfasser - Auteur: Wolfgang Babilas
E-mail: babilas@uni-muenster.de

LOUIS ARAGON ONLINE © 1997-2001 Wolfgang Babilas. All rights reserved.