Geschichte
Die Vorgeschichte des Instituts für Neutestamentliche Textforschung (INTF) beginnt schon Ende der 1940er Jahre, als die Württembergische Bibelanstalt in Stuttgart (WBS) den jungen Hallenser Professor Kurt Aland bat, an dem von ihr verlegten "Novum Testamentum Graece" mitzuarbeiten. Diese Ausgabe wurde 1898 von Eberhard Nestle begründet und ist nach dessen Tod im Jahre 1913 von seinem Sohn Erwin Nestle fortgeführt worden. Die beiden Nestles hatten sich für den Text allein auf die textkritischen Apparate anderer Ausgaben gestützt. Kurt Aland nutzte für die Ausgabe zum ersten Mal in ihrer Geschichte erstmals auch Handschriften oder deren Reproduktionen.
Nachdem Aland 1958 wegen Auseinandersetzungen mit dem DDR-Regime zusammen mit seiner Familie in den Westen geflohen war, erhielt er zunächst eine der "gesamtdeutschen" Oberassistentenstellen, die für die Unterstützung ostdeutscher Flüchtlinge eingerichtet worden, an der Universität Münster. Nur wenige Woche später stellte er einen Antrag auf Gründung eines Instituts für Neutestamentliche Textkritik. Bereits Anfang 1959 wurde dieser Antrag bewilligt, zum 1. Oktober desselben Jahres nahm es seine Arbeit auf.
Bei der Suche nach neuen Handschriften auf abentuerlichen Reisen in ganz Europa wurden die Manuskripte nicht mehr wie vorher üblich in den jeweiligen Orten mühsam abgeschrieben, sondern Fotografien der vollständigen Texte erstellt. Man reiste mit dem Auto, einem Opel Kapitän. In dessen Anhänger wurde eine mobile Fotoausrüstung mitgeführt. Um bisher unzugängliche Manuskripte fotografieren zu können, musste bisweilen die beschwerliche Reise mit der gesamten Ausrüstung auf Eseln fortgesetzt werden.
Die Zahl der erstellten Mikrofilme stieg kontinuierlich und war bald zu einer stattlichen Sammlung angewachsen. Dadurch wurden neue Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit geschaffen: Während früher eine Einsicht in die Handschriften nur vor Ort möglich war, konnten die Texte jetzt direkt im Institut bearbeitet und ausgewertet werden.
So wuchs im Laufe der Zeit die Kenntnis der überlieferten Varianten und damit auch der Apparat. Dieses umfangreiche Material ermöglichte es, zunächst den "Nestle", später den "Nestle-Aland", auf einen neuen Stand zu bringen. Später wurden die Ergebnisse der Arbeit des INTF auch von dem Herausgebergremium des "Greek New Testament" (GNT), einer weiteren Handausgabe des Neuen Testaments, berücksichtigt. Die Handausgaben wurden und werden weltweit in Forschung und Lehre benutzt und entwickelten sich zum Markenzeichen des Instituts.
Auf Initiative von Bischof Hermann Kunst, dem ersten Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche bei der Bundesregierung wurde am 28. November 1964 die „Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung“ (später: Hermann Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung) gegründet.
Auf dem Weg zur "Editio Critica Maior" (ECM) hatte Kurt Aland jedoch größere Pläne als nur die Handausgaben des Neuen Testaments zu verbessern. Er wollte eine "große Ausgabe des
griechischen Neuen Testaments" schaffen, die Edition eines kritischen Texts, der auf der ganzen Breite des erhaltenen Handschriftenmaterials beruht und in der Lage ist, diese enorme Materialfülle nicht nur angemessen zu repräsentieren, sondern auch methodisch zu bewältigen. Am Anfang der Arbeit standen in den 1960er Jahren die Katholischen Briefe – Briefe des Paulus, die, wie man annimmt, nicht an eine bestimmte Gemeinde, sondern an die gesamte Kirche gerichtet waren. Dafür konnten das INTF, die Stiftung und besonders Hermann Kunst 500.000 DM bei der "Volkswagen-Stiftung" einwerben.
Ein Großteil der inzwischen bekannten Handschriften war noch nie auf ihren Textcharakter untersucht worden. Der Feststellung der Handschriften und der Beschaffung der Filme vor allem in den 1960er und 70er Jahren folgten daher Jahrzehnte der Erfassung und Auswertung des umfangreichen Materials.
Die millionenfachen Einzelergebnisse der Kollation, des Vergleichs der Textzeugen, konnten nur mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung verglichen und ausgewertet werden. Das Institut war eine der ersten geisteswissenschaftlichen Einrichtungen, die sich stets der neuesten Techniken bedient und die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung genutzt hat. Dies erforderte in einem ersten Schritt, dass alle ausgewählten Handschriften vollständig abgeschrieben wurden, um sie für den Computer lesbar und auswertbar zu machen. Das INTF konnte dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung bereits seit 1970 mit Computern und Computerprogrammen arbeiten. Programme wie das „Fragment-Identifizierungsprogramm“ wurden im INTF entwickelt, das als eine der wenigen Einrichtungen an der Universität Münster einen eigenen Lochkartenschreiber besaß.
Hermann Kunst hatte im Lauf der Zeit eine einzigartige und wertvolle Sammlung zusammen getragen, die er 1976 über die Stiftung dem INTF überließ. Es handelte sich um die damals größte Sammlung von 18 neutestamentlichen Handschriften in Privatbesitz in Deutschland, 27 Inkunabeln und frühen Bibeldrucken. Darunter waren die Erstausgabe des griechischen Neuen Testaments durch Erasmus von Rotterdam von 1516, eine Lutherbibel letzter Hand von 1544, Vulgatadrucke des 15. und 16. Jahrhunderts, 71 orientalische Handschriften, Autographen der Reformationszeit mit Briefen von Martin Luther sowie ein Exemplar der gedruckten Konzilsbeschlüsse von Trient mit handschriftlichen Anmerkungen des Sekretärs und Notaren. 1979 wurde das Bibelmuseum, das erste seiner Art in Deutschland, feierlich von Bundespräsident Walter Scheel eröffnet, um diese Sammlung und wissenschaftlichen Erkenntnisse des INTF der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Nach langer Vorarbeit wurde 1988 das grundlegend neu bearbeitete „Wörterbuch zum griechischen Neuen Testament“ von Kurt und Barbara Aland gemeinsam veröffentlicht. Unter der Leitung von Barbara Aland, die 1983 die Leitung des Instituts von ihrem emeritierten Mann übernommen hatte, wurde parallel zur Arbeit an der großen Ausgabe die 27. Auflage der Handausgabe „Nestle-Aland/Novum Testamentum Graece“ erarbeitet, die im Jahre 1993 im Druck erschien. Zugleich wurde unter ihrer Leitung die Kooperation mit dem „International Greek New Testament Project“ (IGNTP) eingeleitet und damit die Grundlagen für eine internationale Zusammenarbeit bei der Erstellung der ECM gelegt.
1997 erschien die erste Teilausgabe der "Editio Critica Maior" mit dem Jakobusbrief bei der deutschen Bibelgesellschaft. Inzwischen sind auch das Markusevangelium, die Apostelgeschichte und die Katholischen Briefe in internationaler Zusammenarbeit erschienen. Zurzeit wird an der Ausgabe des Matthäusevangeliums gearbeitet, die im Jahre 2025 gedruckt vorliegen soll. Bis zum Jahre 2030, dem Ende des Akademieprojektes, soll das Lukasevangelium veröffentlicht werden.
Die ECM war von Anfang an ein digitales Unternehmen, so dass neben der Publikation in Buchform gleichzeitig auch die digitale Veröffentlichung der Ausgabe problemlos möglich war. In dem Virtuellen Handschriftenlesesaal (NTVMR), der parallel zur Arbeit an der ECM im INTF entwickelt wurde, sind bisher die digitalen Editionen der Apostelgeschichte und des Markusevangeliums zugänglich.
2004 wurde Prof. Holger Strutwolf als Direktor des INTF und des Bibelmuseums berufen. Er leitet beides bis heute. Er initiierte den Aufbau der "Arbeitsstelle Editio Critica Maior" (AECM) 2007, die von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste finanziert wird. Im 2007 geschaffenen "New Testament Virtual Manuscript Room" (NTVMR) findet internationale Forschung im weltweit größtendigitalen Archiv griechischer Handschriften statt.
Neben diesen Projekten läuft die Arbeit an den weltweit verbreiteten Handausgaben
des griechischen Neuen Testaments weiter, des "Nestle-Aland" und des "Greek New Testament": Im Jahre 2012 erschien die 28. Auflage des "Nestle-Aland", in der nicht nur der Apparat erneut verbessert und benutzerfreundlicher gestaltet wurde, sondern auch die neuen Erkenntnisse der ECM der Katholischen Briefe eingearbeitet wurden. Gleiches gilt für die 2014 erschienene, ebenfalls grundlegend überarbeiteten fünfte Auflage des "Greek New Testament".
2014 zog das Bibelmuseum an seinen heutigen Standort an der Pferdegasse 1. Von 2014 bis 2019 fand eine umfassende Neukonzeption der Sammlungspräsentation, Ausstellungsarchitektur und auch der Eingangssituation statt. Heute werden rund 1.500 Exponate im 160 Quadratmetern großen Bibelmuseum gezeigt.