Rekonstruktion der biblischen Apokalypse
Die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des Neuen Testaments, ist der kryptischste Text der Bibel. Die auch als "Apokalypse" bekannten Endzeitvisionen schildern in drastischen Bildern das Ende der Welt. Die Deutung der einzelnen Motive und Zahlenwerte ist bis heute umstritten. Das Institut für Septuaginta- und biblische Textforschung (ISBTF) der Kirchlichen Hochschule Wuppertal hat nun unter Mitarbeit des Instituts für Neutestamentliche Textforschung (INTF) eine verlässliche griechische Textgrundlage vorgelegt, auf deren Basis Forschung, Lehre, Übersetzung und kirchliche Praxis den kontroversen Text neu interpretieren können. Die vierbändige Ausgabe ist Teil der "Editio Critica Maior", deren Ziel es ist, bis 2030 eine vollständige Ausgabe des griechischen Neuen Testaments zu erstellen, die mit Hilfe modernster, edv-unterstützter Methoden so nah wie möglich an den heute verschollenen Urtext herankommen.
Dafür wurden alle Textpassagen der Apokalypse mit ausgewählten handschriftlichen Quellen aus der Zeit ungefähr vom zweiten bis zum 17. Jahrhundert n.Chr. verglichen. Da sich beim Kopieren der Texte immer unabsichtliche Fehler oder absichtliche Änderungen einschlichen, weil der Schreiber eine andere Interpretation bevorzugte oder mehrere Vorlagen kombinierte, unterscheiden sich alle so genannten "Textzeugen" voneinander. Ziel der Forschungen im INTF und ISBTF ist es, einen Text zu rekonstruieren, wie ihn der ursprüngliche Autor im Sinn hatte. Die am INTF entwickelte "Kohärenzbasierte genealogische Methode" (CBGM) erlaubt es, mit Hilfe von Computern tausende von Textstellen miteinander zu vergleichen und so ihre gegenseitigen zeitlichen Abhängigkeiten unabhängig von dem Schreibmaterial festzustellen.
Im Vergleich mit dem bisher publizierten Text findet sich die wichtigste Änderung in der Apokalypse Kapitel 21, Vers 6 (Apk 21,6). In der bisherigen Fassung erklärt Gott auf seinem Thron: "Es ist geschehen, ich bin das Alpha und Omega", in der nun präferierten: "Ich bin geworden, ich, das Alpha und Omega". Der theologische Bedeutungsunterschied besteht darin, dass Gott entweder schon immer der Erste und der Letzte war, oder dass er der Erste und der Letzte geworden ist. In der ECM wurde sich für die letztere Variante entschieden, weil sie in den Handschriften besser belegt ist. Außerdem konnten die Editoren logisch nachvollziehen, warum man bisher die erste Variante verwendete: Sie ist theologisch leichter fassbar. Diese Änderung wird sich auf alle neuen Übersetzungen auswirken.
Bei einigen textlichen Problemen, die nur im griechischen Original sichtbar sind, konnten die Herausgeber keine eindeutige Entscheidung treffen, da sich keine schlüssigen Beweise für die eine oder Lesart ergaben. Deshalb wurden an diesen Stellen beide Lesarten gleichberechtig abgedruckt und die Gründe dafür ausgiebig dargestellt, damit sich der jeweilige Nutzer selbst für eine Variante entscheiden kann. Andere Stellen hingegen konnten jetzt eindeutig als Ausgangstext bestätigt werden, zum Beispiel "666" (Apk 13,18) als "Zahl des Tieres/Teufels" und nicht "616", wie sie in zwei Handschriften auftaucht.
In keiner anderen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments beruht der Text auf so objektiv begründbaren Entscheidungen, wie es in der "Editio Critica Maior" der Fall ist. Das liegt zum einen daran, dass die in der Kohärenzbasierten genealogischen Methode gewonnenen Verwandtschaftsbeziehungen weltweit online abrufbar und nachvollziehbar sind. Zum anderen haben die Herausgeber aus Münster und Wuppertal der Offenbarung des Johannes einen Apparat in bislang nicht gekanntem Umfang mitgegeben. Ein Überblick über die gut 100 verwendeten griechischen Manuskripte und eine Auswahl der Stellen, an denen die Kirchenväter den Originaltext zitiert haben, gehören ebenso dazu wie weiter gehende Studien zum Text: ein Kommentar zu ausgewählten Varianten sowie Untersuchungen zu frühen Übersetzungen und zur patristischen Überlieferung.
Besonders umfangreich ausgefallen ist der Band zur Orthografie des apokalyptischen Textes. Da diese im griechischen Sprachraum zur Zeit der Entstehung um 70 nach Christus nicht standardisiert war, ist er nicht nur für Theologen und Übersetzer interessant, sondern auch für Altphilologen.
Mit dem Erscheinen der Offenbarung des Johannes in der Editio Critica Maior ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. Zum einen werden alle verfügbaren Informationen und der Text selbst online über das INTF zugänglich gemacht. Zum anderen werden die verschiedenen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments auf dieser Grundlage aktualisiert. Als erstes ist das "Greek New Testament" der United Bible Societies zu nennen, die weltweit am weitesten verbreitete Ausgabe des Neuen Testaments in der Ursprache. Sie richtet sich vor allem an Bibelübersetzer, weshalb sich der Apparat der Lesarten nur die aufführt, die für diese Zielgruppe wichtig ist. Deutlich umfangreicher, aber zugänglicher als die ECM ist der Apparat des so genannten "Nestle-Aland". In beiden Herausgebergremien sitzt auch Prof. Dr. Holger Strutwolf, der Direktor des INTF und einer der international federführenden Wissenschaftler im Bereich der neutestamentlichen Textforschung.
Das Bibelmuseum zeigt noch bis Ende September die Ausstellung "Kritische Anaylse Heiliger Texte". In der Ausstellung zum 65. Jubiläum des INTF bekommen Besucherinnen und Besucher tiefe Einblicke in die Geschichte der Forschung und die aktuelle Arbeit mit dem griechischen Text des Neuen Testaments.
Hintergrund:
Die Offenbarung des Johannes entstand wahrscheinlich in der Zeit um 70 n. Chr., ob vor oder nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer, ist umstritten. Namentlich genannt wird im Text Kaiser Nero als Verkörperung des Anti-Christen. Noch heute erkennen nicht alle christlichen Konfessionen, vor allem die östlichen Kirchen, die Apokalypse als Teil der Bibel an. In den 22 Kapiteln (nach heutiger Zählweise) schildert der unbekannte Autor seine Visionen vom Untergang der Welt und der Vernichtung der Ungläubigen durch vier Reiter und sieben Plagen, während für die gläubigen Christen "ein neuer Himmel, eine neue Welt und ein neues Jerusalem" entstehen. Die Offenbarung ist der einzige apokalyptische Text des Neuen Testaments. Die Arbeit an der Neuedition dauerte insgesamt zwölf Jahre.