Kohärenzbasierte Genealogische Methode (CBGM)
Der griechische Urtext der 27 Schriften des Neuen Testaments, wie ihn die Autoren verfasst haben, ist nicht im Original erhalten. Die frühesten Papyrusfragmente mit neutestamentlichem Text stammen aus dem zweiten Jahrhundert, die ersten vollständigen Exemplare, die Pergamentkodizes Vaticanus und Sinaiticus, aus dem vierten Jahrhundert. Die meisten der über 5.700 erhaltenen Handschriften wurden aber erst im zweiten Jahrhundert kopiert.
Im Zuge der Überlieferung durch viele Jahrhunderte ist eine Vielzahl von Varianten entstanden, die die Handschriftentexte unterscheiden. Kein einziger stimmt genau mit einem anderen überein, jeder hat sein eigenes Variantenprofil. Zweifellos haben sich die Kopisten bemüht, buchstabengetreu abzuschreiben, aber natürlich machten sie Fehler. Schon der Kirchenvater Hieronymus klagt, dass sie den Text vielfach nicht so abschrieben, wie er in der Vorlage stand, sondern, wie sie ihn verstanden.
Auch sind nicht wenige Varianten als Versuche zu erklären, vermeintliche oder tatsächliche Fehler in der Vorlage zu verbessern. Da sich diese Veränderungen des Textes im Laufe von Jahrhunderten anhäuften und ihrerseits oft getreulich weiter überliefert wurden, gibt es im neutestamentlichen Text Tausende von Stellen mit Varianten. Allerdings weichen meist nur einzelne oder einige wenige Handschriften von einer zuverlässigen Mehrheitsüberlieferung ab. Zu einer signifikanten Verzweigung der Überlieferung kommt es in etwa zehn Prozent der Variationseinheiten.
Dennoch ist deutlich, dass die Textform, die am Anfang der handschriftlichen Überlieferung stand, der Ausgangstext, nicht einfach gegeben ist, sondern rekonstruiert werden muss. Dazu hat die neutestamentliche Textforschung wissenschafliche Methoden zur Beurteilung der Varianten nach inneren und äußeren Kriterien entwickelt. Innere Kriterien beziehen sich auf die sprachliche Qualität einer Variante, äußere Kriterien auf die Qualität ihrer Bezeugung. Nach diesen Kriterien kann die Genealogie der Varianten Stelle für Stelle beurteilt werden.
Die von Gerd Mink am INTF im Zuge der Arbeit an der Editio Critica Maior (ECM) entwickelte Kohärenzbasierte Genealogische Methode (Coherence-Based Genealogical Method, CBGM) stellt diese textkritischen Verfahren auf eine neue methodische Basis. Dabei geht sie von der großen Kohärenz der neutestamentlichen Überlieferung aus, die sich einerseits in der weitgehenden Übereinstimmung verglichener Handschriftentexte zeigt, andererseits in den genealogischen Beziehungen zwischen Varianten. Auf der Grundlage des vollständigen kritischen Apparats der ECM schließt die CBGM aus der Genealogie der Varianten, die jeweils in einem lokalen Stemma dargestellt wird, auf die Genealogie der Textzeugen, in denen die Varianten überliefert sind. Ein Ergebnis dieses Verfahrens ist eine gut begründete Rekonstruktion des Ausgangstextes, der am Anfang der handschriftlichen Überlieferung stand.