Interview mit Prof.'in Karin Böllert anlässlich des Internationalen Tags der Jugend
„Mittelkürzungen sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen in das politische System“
Erziehungswissenschaftlerin Karin Böllert über Auswirkungen der geplanten Einsparungen bei der Kinder- und Jugendhilfe
Das Bundeskabinett hat am 5. Juli den Entwurf des Regierungshaushalts 2024 beschlossen. Darin enthalten sind Kürzungen um knapp 20 Prozent beim Kinder- und Jugendplan – das zentrale Förderinstrument zur Finanzierung der bundeszentralen Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe – sowie bei der politischen Bildung. Sozialverbände und -vereine wie die Arbeiterwohlfahrt, die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe, der Bundesjugendring oder die Stiftung Lesen kritisieren die Kürzungen der Ausgaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend um 218 Millionen Euro scharf. Anlässlich des Internationalen Tags der Jugend, der jedes Jahr am 12. August begangen wird, schildert Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Karin Böllert im Gespräch mit Kathrin Nolte, was die Kürzungen für Kinder und Jugendliche in einer alternden Gesellschaft bedeuten und was geschehen muss, um die junge Generation besser zu fördern.
Welche Auswirkungen haben die vorgesehenen Kürzungen für Kinder und Jugendliche?
Junge Menschen haben durch den Umgang der Politik in der Coronapandemie mit ihren Interessen und Bedürfnissen ein gutes Gespür dafür entwickelt, ob sie ernst genommen oder wieder einmal vergessen werden. Jugendstudien beispielsweise der Vodafone-Stiftung machen deutlich, dass 73 Prozent unzufrieden damit sind, wie die Politik ihre Interessen berücksichtigt. Weniger als ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen hat das Gefühl, Politik beeinflussen zu können. Dabei sind 64 Prozent an politischen Themen interessiert, 66 Prozent der Ansicht, dass junge Menschen politisch etwas verändern wollen. Die Mittelkürzungen sind daher keine vertrauensbildenden Maßnahmen in das politische System und dessen demokratische Verfasstheit.
Die umfangreichen Einsparungen werden von Sozialverbänden und -vereinen scharf kritisiert. Welche Einschnitte sind zum Beispiel für Freiwilligendienste und bei der politischen Bildung zu erwarten?
Die geplanten Kürzungen würden deutliche Einschnitte für die politische Jugendbildung bedeuten. Das wirkt noch fataler, wenn die Kürzungspläne um etwa ein Fünftel für den Haushalt der Bundeszentrale für politische Bildung umgesetzt werden. Der allgegenwärtige Ruf nach einem Mehr an politischer Bildung wird hierdurch konterkariert.
Ebenso verhält es sich mit dem Freiwilligendienst: Bislang absolvieren rund 100.000 Menschen pro Jahr einen Freiwilligendienst. Das sind mehr als zehn Prozent eines Jahrgangs der Schulabgänger. Jetzt soll die Förderung der Freiwilligendienste so stark gekürzt werden, dass rund 25 Prozent der Plätze wegfallen werden. In dieser Situation die Einführung eines sozialen Pflichtjahrs für junge Menschen zu fordern, ist zynisch.
Die bisherige Finanzierung infrage zu stellen, kann auch etwas Positives bewirken. Gibt es Förderungen und Programme, die sich für die Kinder- und Jugendarbeit nicht bewährt haben?
Wenn die aktuellen Prioritätensetzungen überproportionale Einsparungen in der sozialen Infrastruktur zur Folge haben, fällt es schwer, nach etwas Positivem zu suchen. Das, was offensichtlich wird, ist das eine Projekteritis nicht in der Lage ist, dauerhaft verlässliche Strukturen aufzubauen. Während die Anforderungen immer größer werden (Ganztags- und Kitaausbau, Armutsbekämpfung, Inklusion, Gesundheits- und Bewegungsförderung, Digitalisierung, Demokratiebildung und ökologische Transformation), nimmt das Verfallsdatum kurzfristiger Programme ab. Das ist Sparen an der Gegenwart und Zukunft der jungen Generation und erzeugt allenfalls unkalkulierbare, in jedem Fall höhere Folgekosten.
Was muss geschehen, um die junge Generation stärker innerhalb einer alternden Gesellschaft zu fördern?
In der Debatte zu Kürzungen beim Elterngeld für Wohlhabende ist gewarnt worden, dass ausgerechnet bei Leistungsträgern der Gesellschaft gespart werden soll. Der hier formulierte Maßstab der Einkommenshöhe klingt in den Ohren der jungen Menschen wie Hohn. Leistungsträger sind sie ganz offensichtlich nicht. Mehrheitlich fordern sie die Bundesregierung auf, den Weg hin zu einer gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaft einzuschlagen. Eine Politik, die diese Anliegen junger Menschen ernst nimmt, zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie Einsparungen einseitig zu ihren Lasten durchsetzt und die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe als ihre Interessenvertretung existentiell gefährdet.