Gesetze für „lebende Tote“. Der Umgang mit Leprakranken im Spiegel des mittelalterlichen Rechts
von Kay Peter Jankrift
Einblicke in eine „andere“ Krankheit
„Lepra ist anders“, betonte Richard Toellner im Einführungsbeitrag der Gedenkschrift zum 650-jährigen Bestehen des Rektorats Münster-Kinderhaus (Toellner 1992, S. 1-7). Mit diesen prägnanten drei Worten charakterisierte der seinerzeitige Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Medizin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eine Infektionskrankheit, welche die Erkrankten im lateinischen Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit ebenso unweigerlich nach oftmals langem Siechtum zum Sterben verurteilte wie noch bei Lebzeiten zum „sozialen Tod“ (Toellner 1992, S. 1). Anders als der Schwarze Tod zur Mitte des 14. Jahrhunderts und nachfolgende Seuchen, hinterließ die Lepra zu keiner Zeit Berge von Leichen. Sie traf nicht das Kollektiv, sie traf Einzelne. Schätzungen zur Mortalität der Lepra variieren stark. Im Allgemeinen geht man in der (medizin-)historischen Forschung jedoch davon aus, dass sich die Mortalitätsziffer selbst während des vermuteten Verbreitungshöhepunkts der Infektionskrankheit im 13. und 14. Jahrhundert wohl eher im Promillebereich bewegte (Wolf 1989, S. 102 Anm. 5 u. 6).
Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die Ausgrenzung Leprakranker keineswegs nur einer fernen Vergangenheit angehört. In manchen Regionen der Welt, in denen die Lepra bis heute auftritt, prägen jüngsten Informationen der „Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe“ zufolge Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausschluss vielfach noch immer das Los der Betroffenen (DAHW 2022; Fessler 2020; Barrett 2005, S. 216-230).
Zu den auffälligen Besonderheiten des Umgangs mit Leprakranken und der Lepra im vormodernen Europa zählt, dass die Auseinandersetzung mit keiner anderen Krankheit – nicht einmal der von den Zeitgenoss:innen als Pest wahrgenommenen Seuchen - sich über die Jahrhunderte hinweg in einer derart großen Zahl und Spannbreite von Bestimmungen im weltlichen wie kanonischen Recht niedergeschlagen hat. Um die Hintergründe dieser umfangreichen Gesetzgebung in Bezug auf Leprakranke besser einordnen zu können, sind einige Anmerkungen zu den Symptomen der Krankheit, zum Erscheinungsbild der Betroffenen und den damit verbundenen zeitgenössischen Vorstellungen unerlässlich.
Das klinische Bild der Lepra
Der Erreger der heute in der Medizin als „Lepra“ definierten Infektionskrankheit, das Mycobacterium leprae, wurde im Jahre 1873 durch den norwegischen Arzt Gerhard Armauer Hansen (1841-1912) entdeckt (u.a. Irgens 2002, S. 708-709). Die medizinische Forschung geht davon aus, dass das Mycobacterium leprae vor allem bei wiederholtem, engem Kontakt mit Erkrankten durch Tröpfcheninfektion über den Nasen-Rachen-Raum übertragen wird (u.a. Suzuki/Akama/Kawashima e.a. 2012). Unzureichende hygienische Bedingungen, mangelnde Ernährung und ein geschwächtes Immunsystem begünstigen eine Infektion (Montoya/Modlin 2010). Der Erreger ist vergleichsweise wenig ansteckend, so dass eine funktionierende Immunabwehr diesen zumeist ohne Auftreten von Symptomen erfolgreich bekämpft (u.a. Suzuki/Akama/Kawashima e.a. 2012). Die Inkubationszeit beträgt mehrere Monate, manchmal gar Jahre (u.a. Suzuki/Akama/Kawashima e.a. 2012). In Einzelfällen wurde eine Zeitspanne von bis zu 40 Jahren zwischen einer Ansteckung und dem Ausbruch der Krankheit beobachtet (Jankrift 1996, S. 9).
Das Erscheinungsbild der Lepra ist vielfältig. Der Erreger befällt vor allem das Hautgewebe und die Schwann-Zellen des peripheren Nervensystems (u.a. Suzuki/Akama/Kawashima e.a. 2012). Dadurch kommt es unter anderem zum Auftreten der für die Krankheit so charakteristischen Symptome wie der Bildung knotiger Infiltrate vor allem im Gesicht und braunroter, gefühlloser Flecken (Jankrift 1996, S. 9). Verletzungen solch gefühlloser Hautpartien bleiben von den Erkrankten häufig unbemerkt, so dass durch Entzündungen weiteres Gewebe zerstört wird bis sich schließlich Verstümmelungen an Händen und Füßen einstellen. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung entsteht durch eine Verschmelzung dieser Infiltrate das sogenannte „Löwengesicht“ (facies leonina). Die Nase fällt ein, die Augenbrauen gehen verloren, auf den Schleimhäuten des Nasen-Rachen-Raumes bilden sich Geschwüre, die Stimme wird durch Veränderungen des Kehlkopfes rau und die Erkrankten erblinden. Dringt der Erreger erst in die Blutbahn ein, werden auch die inneren Organe befallen. Lepra-Erkrankungen sind chronisch. Der Tod folgt erst nach jahre- bis jahrzehntelangem Leiden.
Zwar ist die Lepra heute mit Medikamenten erfolgreich behandelbar, doch die Wirkstoff-Forschung gestaltet sich noch immer äußerst schwierig (Gensthaler 2020; Just 1992, S. 128-133). Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass bislang noch keine Anzüchtung von Mycobacterium leprae auf Nährböden im Labor geglückt ist (Gensthaler 2020). Allen Widrigkeiten zum Trotz hat unlängst nach 17-jähriger Entwicklungszeit die klinische Phase zur Erprobung eines Impfstoffs gegen die Lepra namens LepVax begonnen (Natter 2021).
Vorstellungen der „Lepra“ in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunde
Angesichts der schwerwiegenden Symptome, die mit einer unbehandelten Erkrankung einhergehen, lässt sich erahnen, wie viel Angst vor der Lepra im Mittelalter und in der frühen Neuzeit geherrscht haben mag. Das Fehlen wirksamer Heilmittel wie auch die sozialen Folgen steigerten die Furcht vor einer Ansteckung fraglos. Zeitgenössische Vorstellungen der Lepra und deren Ursachen unterscheiden sich deutlich von der gegenwärtigen medizinischen Definition der Krankheit. Retrospektive Diagnosen allein mittels der Interpretation schriftlicher Zeugnisse anzustellen, ist nicht zuletzt deshalb unmöglich, weil der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunde mit dem hippokratisch-galenischen Corpus und dessen Vier-Säfte-Lehre andere medizintheoretische Lehrmodelle zugrunde lagen als der heutigen Medizin (u.a. Stolberg 2012; Leven 1998). So verbirgt sich hinter den klinischen Erscheinungsbildern der in Mittelalter und früher Neuzeit als Lepra wahrgenommenen Phänomene ein breites Spektrum verschiedener Erkrankungen (Jankrift 2005, S. 132-136).
Gemäß zeitgenössischen medizinischen Konzeptionen förderte ein Überfluss an sogenannter „schwarzer Galle“, einem der vier Körpersäfte, die Entstehung der Lepra. Ursächlich hierfür war neben dem übermäßigen Verzehr bestimmter Speisen ein schlechter Lebenswandel ((Jankrift 2014, S. 29-35). Lepra-Erkrankungen galten nach zeitgenössischer Auffassung aber vor allem als göttliche Sündenstrafe (Pichon 1988, S. 147-157). In der Vorstellung ihrer gesunden Mitmenschen durch ihre Krankheit mit dem Stigma ihrer Sündhaftigkeit gezeichnet, bedingte die Lepra zugleich „Unreinheit“ im religiösen Sinne und zog mithin einen Ausschluss aus der Kultgemeinschaft nach sich. Dabei orientierten sich derlei Überzeugungen an den Ausführungen des biblischen Buches Leviticus (Lev 13, 46). Darin heißt es unter anderem, dass Leprakranke lautstark den Zustand ihrer Unreinheit verkünden und während der Dauer ihrer Krankheit außerhalb des Lagers bleiben sollten. Spätere Interpretation dieser Passagen in der lateinisch-christliche Welt des Mittelalters wichen vom ursprünglichen Verständnis der „Lepra“ in der Thora ab (Jankrift 2019) und leiteten hieraus eine dauerhafte rituelle „Unreinheit“ der Kranken sowie die Notwendigkeit zu deren Absonderung von den Gesunden her. Dieser Grundgedanke durchzog jahrhundertelang maßgeblich das kanonische wie auch das weltliche Recht in Bezug auf Leprakranke (Uhrmacher 2011, S. 24-30; Merzbacher 1967; Reicke 1932, S. 234-258; Imbert 1947, S. 151-195). In welchen Formen sich solches Denken in rechtlichen Normen manifestierte und in der Praxis auswirkte, wird im Folgenden anhand einiger markanter Beispiele aufgezeigt.
Leprakranke im Spiegel des Rechts
Die ältesten kanonischen Rechtszeugnisse zum Umgang mit Leprakranken reichen in das 6. Jahrhundert zurück. In den Beschlüssen des Konzils von Orléans wurde den Bischöfen im Jahre 549 auferlegt, die von der Krankheit Befallenen ihres Bistums und ihrer Stadt aus dem Vermögen der Kirche mit Nahrung wie auch Kleidung zu versorgen (De Clerq 1973, S. 156.) Etwa zur gleichen Zeit entstanden im Reich der Merowinger die ersten hospitalischen Einrichtungen zur Aufnahme Leprakranker, so um 550 in Châlons-sur-Saône in der Champagne (Uhrmacher, S.20-21). Das Konzil von Lyon bestätigte 583 die in Orléans gefassten Beschlüsse, legte aber darüber hinaus fest, dass den Erkrankten die Erlaubnis zur Wanderschaft in andere Städte verweigert werden sollte (De Clerq 1973, S.232-233). Dieser Zusatz legt die Vermutung nahe, dass manche der designierten Almosenempfänger zuvor versucht hatten, sich an unterschiedlichen Orten milde Gaben zu sichern.
Im Edictus Rothari, dem Gesetzbuch des Langobardenkönigs Rothari († 652), finden sich 643 die ersten bekannten Bestimmungen des weltlichen Rechts zum Status Leprakranker. Darin heißt es, dass an der Lepra Erkrankte, deren Zustand den Richtern bekannt geworden sei, aus der Stadt und ihrem Haus vertrieben werden wie auch keinerlei Verfügungsgewalt über ihren Besitz mehr haben sollten (Blume 1868, S. 41). Nach vollzogener Vertreibung galten Leprakranke dem Gesetz zufolge „gleichsam wie Tote“ (tamquam mortuus). Der rechtliche Tod wurde dabei eindeutig vom physischen Tod unterschieden. Denn der Gesetzestext fährt fort, dass die oder der Kranke zu Lebzeiten (dum advixerit) aus seinem zurückgelassenen Besitz versorgt werden sollte (Blume 1868, S.41).
In manchen Regionen Frankreichs wurde dieser „Rechtstod“ im späteren Mittelalter durch besondere kirchliche Riten höchst drastisch in Szene gesetzt (Martène ²1736; S. 1003-1013). So mussten Leprakranke unter anderem an ihrer eigenen Totenmesse teilnehmen und symbolisch in ein ausgehobenes Grab steigen. Hierzu verkündete der Priester, dass der Kranke tot für die Welt sei, doch in Gott weiterleben werde (Sis mortuus mundo vivens iterum in Deo).
Als wohl wichtigster Meilenstein des kanonischen Rechts in Bezug auf den Umgang mit Leprakranken in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Lebenswelt erscheinen die diesbezüglichen Beschlüsse des Dritten Laterankonzils im Jahre 1179 (Alberigo/Leonardi 1973, S.222f.; Avril 1981). Darin wurde unter anderem festgelegt, dass Leprakranke abgesondert von Gesunden in eigenen Häusern gemeinschaftlich zusammenleben, eigene Gotteshäuser und Friedhöfe haben sollten. Die Zahl der sogenannten Leprosorien, die in der Regel über eine Kapelle sowie einen Begräbnisplatz verfügten, wuchs einhergehend mit dem Aufblühen des europäischen Städtewesens in der Folgezeit stark an (Exemplarisch Uhrmacher 2011).
Aus dem Zustand der gewissermaßen „lebenden Toten“ ergab sich jedoch zwangsläufig eine Vielzahl weiterer Probleme, die in Teilen sowohl weltliches wie kanonisches Recht betrafen. So befasste man sich etwa damit, ob die Ehen zwischen Gesunden und Leprakranken weiterhin Bestand hatten oder geschieden werden durften. Oder gar, ob ein leprakranker Mann König sein konnte. Auch brachte die Gründung von Leprosorien vor den Mauern der Städte die Entstehung weiterer rechtlicher Regelwerke von lokaler oder territorialer Gültigkeit mit sich. Schließlich ist angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen, die mit einer vermeintlichen Lepraerkrankung einhergingen, die wichtige und grundlegende Frage nach den Modalitäten einer rechtsverbindlichen Feststellung dieser Erkrankung zu stellen. Diesen Problemkomplexen differenziert nachzugehen, muss indes einer umfangreicheren Studie vorbehalten bleiben. Die vorangegangenen Ausführungen haben ihren Zweck erfüllt, wenn erste Schlaglichter die Vielschichtigkeit dieses Themenfeldes zunächst in aller Kürze beleuchten konnten.
Quellen
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